Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit
Eine andere Politik ist möglich!

Die Nachricht.

06.04.2005 | 20:56 | Alter: 2 Jahre | Kategorie: Politik

Von: Redaktion

Fürsorge oder solidarischer Sozialstaat ? Perspektiven einer wirklichen Reform des Sozialstaates

Schon wieder sind die Altersrenten ins politisches Gerede gekommen. Die Radikalreform aus dem Jahr 2004 hat nicht lange gehalten. Bundessozialministerin Schmidt (SPD) hat für das Jahr 2005 eine Kürzung der Renten ausgeschlossen.

Joachim Bischoff
Björn Radke

Es bleibe wie im Vorjahr bei einer Nullrunde, denn es gäbe nicht zu verteilen. Wenn die Arbeitnehmer keine Lohnzuwächse hätten, könne es keine Rentenzuwächse geben.

Der Rentenexperte Bernd Raffelhüschen, Mitglied der Rürup-Expertenkommission zur Reform der Sozialsysteme, rechnet mit einer Senkung der Renten im nächsten Jahr. "Wenn die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland sich so abschwächt, wie es die Europäische Kommission voraussagt, dann wäre eine Kürzung nicht nur notwendig, sondern auch sinnvoll"; Raffelhüschen erwartet zudem einen Anstieg der Rentenbeitragssätze schon in diesem Jahr. Er halte es für "unmöglich", dass die Rentenbeiträge stabil bleiben, sagte er. "Spätestens im November steigen die Sätze. Da geht kein Weg daran vorbei."

Der Präsident des Sozialverbandes VdK, Walter Hirrlinger, ist über diese Debatte empört. Rentenkürzung seien längst Realität. Im Jahr 2004 mussten die Rentner die Finanzierung der Pflegeversicherung alleine tragen. Die anstehenden Veränderungen im Juli bei Zahnersatz und Krankengeld bedeuten eine weitere Kürzung der Altersrenten um 1,3 %. Immer mehr Rentner erhielten nur Altersbezüge in Höhe der Sozialhilfe. 70 % der Frauen erhielten eine monatliche Rente bis 650 €uro.

Diese politische Debatte hat einen eindeutigen Hintergrund: die wirtschaftliche Entwicklung ist unzureichend, die Arbeitslosigkeit verharrt auf hohem Niveau. Zugleich stagnieren die Arbeitseinkommen des Lohnabhängigen. Die Einnahmen der Rentenkassen sind zudem rückläufig, weil die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse noch stärker zurückgehen, denn immer mehr Jobs werden in Mini-Jobs verwandelt, die nur in geringem Maße zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme herangezogen werden. Es kommt zu wenig Geld in die Rentenkassen.

Die rotgrüne Regierungskoalition wusste das und hat versucht über eine langfristige Absenkung des Rentenniveaus und die Erhöhung der Lebensarbeitszeit dieses Problem in den Griff zubekommen. Weil aber der Wahlbetrug in Sachen Altersrenten als zu eklatant empfunden wurde – immerhin sind 20 Millionen Altersrentner auf eine wichtige Zielgruppe bei Wahlen, wurde eine Niveausicherungsklausel verabschiedet. Diese Klausel besagt, dass nur die Rentenzuwächse gegenüber der Lohnentwicklung zurückbleiben sollten, aber nicht direkt das Niveau der aktuellen Renten gekürzt werden darf. Rein rechnerisch müssten die Renten im Jahr 2005 um weitere 0,8 Prozent gekürzt werden.

Logischerweise wird es bei anhaltendem ökonomischen Kriechgang im Herbst eine Zuspitzung des Problems geben. Die Rentenkassen werden ein größeres Defizit aufweisen, das entweder durch eine Erhöhung der Beitragssätze oder aber durch indirekte oder direkte Form weiterer Rentenkürzungen geschlossen werden muss. Die Perspektiven für die nächsten Jahre versprechen zudem keine Trendwende. Die Probleme sind bei der Kranken- und Pflegeversicherung ähnlich gelagert.


Der Sozialstaat in der Legitimationskrise?


Die Erosion des Sozialstaats resultiert aus dem Abflachen des langjährigen Trends des Wirtschaftswachstums. Dies bedeutet nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern – weil dies entsprechenden Rahmenbedingungen politisch geschaffen wurden – dramatische Veränderungen in der Lohnarbeit. Immer mehr Menschen arbeiten beispielsweise auf niedrig entlohnten oder befristeten Stellen; die Zahl der Mini-Jobs steigt und entzieht den Sozialkassen zusätzliche Einnahmen, denn schon wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der Lohnzurückhaltung übertragen sich die verschlechterten Verteilungsverhältnisse auf die sozialen Sicherungssysteme. Zurecht konstatieren Kirsten Rölke und Wolfgang Schröder von der IG Metall:

„Seit dem Ende der 70er Jahre haben die Parlamente eine sozialpolitische Reform nach der anderen beschlossen. Doch der Sozialstaat ist dadurch nicht zukunftssicher geworden. Im Gegenteil: Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer. Unser Sozialstaat ist auch nicht mehr hinreichend in der Lage, die Kräfte des Marktes abzumildern, um Schutz und soziale Sicherung in gewohnter Weise zu bieten.

Die Reformen haben den Sozialstaat in eine Legitimationskrise manövriert: Immer mehr Menschen zweifeln an der Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme. "Die Rente ist sicher" - dieses Versprechen der Kohl-Regierung empfinden viele heute als schlechten Witz. Zudem haben immer mehr Bürger den Eindruck, das der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft ungerecht verläuft.

Auch zahlreiche Reformen der rot-grünen Koalition bedeuten radikale Einschnitte in das soziale Netz. Es gibt keinen Grund, diese Schritte als alternativlos hinzunehmen. Ebenso falsch wäre es jedoch, den Status quo des deutschen Sozialstaats zu verteidigen. Wir brauchen einen Wandel der sozialstaatlichen Instrumente und ihrer Finanzierung, wenn wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts besser bewältigen wollen.“

Die schlichte Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an den ökonomischen Kriechgang hilft uns nicht aus der gesellschaftspolitischen Sackgasse. Im Gegenteil, durch die Kürzungen der Sozialleistungen wird die Abwärtsspirale beschleunigt. Es muss also um wirkliche Reformen, nicht die so genannten Zumutungen gehen.


Beispiel: Arbeitslosengeld II


Die aktuelle Entwicklung belegt, dass die von der rotgrünen Regierungskoalition betriebene Umorganisation von Arbeitsvermittlung, Arbeitsförderung und Bezahlung der von Arbeitslosigkeit Betroffenen keine Trendwende am Arbeitsmarkt gebracht hat - im Gegenteil:Der mit Hartz IV verbundene Sozialabbau ist eine nicht mehr zu leugnende Tatsache. Wer heute arbeitslos wird, muss sich darauf einrichten , seine wenigen Rücklagen zu verlieren und in die Armut abzurutschen. Wie zu erwarten war, sind die Arbeitsplätze dadurch nicht mehr geworden. Nur die Angst der Menschen ist größer geworden. Sie drehen jeden Euro um, bevor er ausgeben wird, d.h. die Sparquote steigt. Die Zahl der durch Krankheit versäumten Arbeitstage ist auf das niedrigste Niveau gefallen, seit es die Statistik gibt, was gleichfalls ein Beleg für die große Verunsicherung ist, und wahrlich kein Grund zum Jubel. Wer Angst um den Job hat, schleppt sich auch mit einer Krankheit an den Arbeitsplatz.

Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz, dass in Deutschland die Binnennachfrage den entscheidenden Bremsfaktor der Konjunktur darstellt. Der Konsum stagniert seit langem . Die Ursachen dafür sind :

- Die einseitige Ausrichtung de Wirtschaft auf die Wettbewerbsfähigkeit, d.h. den Export

- Eine Steuersenkungspolitik, die die öffentlichen Institutionen zu einer massiven Sparpolitik und zur Absenkung entsprechender Investitionen zwingt. Umgekehrt sind boomende Unternehmensgewinne , Zins- und Vermögenseinkommen eben keine Garantie für explodierende Investitionen. Die Investitionslethargie im Innland hängt entscheidend an der schwachen Massenkaufkraft und schleppenden Binnenkonjunktur.

Dies führt zu Arbeitslosigkeit, aber auch zu stagnierenden Löhnen und letztlich zu Kürzungen bei den Sozialleistungen. Im nunmehr fünften Jahr der Stagnationskrise müsste die Regierung eigentlich alles tun, um die Binnenkonjunktur anzukurbeln.

Die geplante weitere Senkung der Körperschaftsteuer wird nicht den Durchbruch zu mehr Investitionen und Wachstum im Land bringen . Die entscheidende Frage ist: Gibt es zu diesem Prozess der Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme eine realisierbare Alternative? Dazu brauchen wir schnell einen radikalen Kurswechsel in der Wirtschafts- und Konjunkturpolitik.

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Wir brauchen den solidarischen, demokratischen Sozialstaat


Selbst wenn wir aus der gegenwärtigen stagnierenden Tendenz bei Wirtschaftswachstum herausgekommen sind, brauchen wir eine andere Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Grundsätzlich muss es darum gehen die Sozialen Sicherungssysteme in Bürgerversicherungen umzugestalten. Ziel dieser Reformen ist es: alle Beschäftigten und darüber hinaus auch alle Einkommensarten ( also auch Vermögenseinkommen etc.) zur Finanzierung der Sozialversicherungen heranzuziehen. Selbstverständlich muss es dabei Freibetragsgrenzen geben, um einseitige Belastungen zu vermeiden. Die Tendenz ,die Beitragsfinanzierung zugunsten eines höheren Anteils von Steuern zu ersetzen, ist allerdings abzulehnen, worauf kürzlich Norbert Blüm nochmals verwiesen hat:

„Mit der Abkehr von der Beitragsfinanzierung hin zur Steuerfinanzierung verliert der Sozialstaat seine Steuerungskapazität. Beiträge decken bekanntlich einen eingegrenzten, zweckgebundenen Finanzbedarf. Einnahmen und Ausgaben stehen in direktem Zusammenhang. Wer mehr Leistungen verlangt, muss bereit sein, mehr Beiträge zu zahlen. Die Grenze der Beitragsbelastung ist also die Grenze der Ausgabenerhöhung. Im Beitragssystem ist also eine Bremse gegen die Inflation von Ansprüchen eingebaut. Das kann man von der Steuerfinanzierung nicht in gleicher Weise sagen. Es gewinnen beim jährlichen Verteilungskampf um das Geld aus dem Staatshaushalt sehr oft jene, die am stärksten Druck ausüben können.“
(Norbert Blüm in der ZEIT vom 31.März 05)

Auch bei dieser zweiten Reformperspektive, der Neuordnung der Finanzen der Sozialen Sicherungssysteme ist also ein grundlegender Kurswechsel notwendig. Denn:

„allmählich und fast unbemerkt verschieben sich in der aktuellen sozialpolitischen Diskussion in Deutschland die Gewichte von der Sozialversicherung zur Sozialfürsorge. Die populäre Parole lautet: Der Sozialstaat soll sich auf die Bedürftigen konzentrieren. So geraten wir auf die Schiene des Fürsorgestaates.
Bei diesem Paradigmenwechsel wird leider übersehen, dass dies mehr Staat und mehr staatlichen Transfer, weniger Subsidiarität und mehr Bürokratie bedeutet...
Wenn Armutsvermeidung zur Hauptaufgabe des Sozialstaates wird, verwandelt sich dieser in eine Bedürfnisprüfungsanstalt, weil er - bevor er Hilfe leistet - ständig fragen muss: »Bist du reich, bist du arm?« Und der Gesetzgeber wird sich zwangsläufig in Kämpfe über die Definition von Armutskriterien verwickeln.“ (Blüm)

Damit geht einher eine Überwachungs-Bürokratie, die heute mit Hartz IV,4 morgen mit der Einführung von Studiengebühren auch die Angehörigen der gesellschaftlichen Mittelschichten trifft. Dies läuft einer demokratischen Entwicklung aber entgegen.

Zurecht verweist Detlef Hensche darauf, dass die Konsequenz der Bedürftigkeitsprüfung das Gegenteil des immer wieder proklamierten Bürokratieabbaus ist. 

„Wenn aber nun Versicherungsleistungen, auf die der Bürger durch seine Arbeit Ansprüche erworben hat, zur Fürsorge zurückentwickelt werden, muss eine wirkliche Bedürftigkeitskontrolle installiert werden, mit Zugriff auf alle relevanten Daten und Konten. So erwächst eine Überwachungs-Bürokratie, die heute mit Hartz IV, morgen mit der Einführung von Studiengebühren auch die Angehörigen der gesellschaftlichen Mitte trifft...Was derzeit im Namen der Freiheit an Reformen verabschiedet wird, der sogenannte Umbau des Sozialstaates, vermehrt nicht die Freiheit ,sondern beschädigt sie. Sozialstaat und Freiheit sind kein Gegensatz; sie bedingen einander.“

Wenn wir von der Verteidigung und Fortentwicklung von Teilen des Sozialstaats reden, bedeutet dies, dass dessen emanzipatorische und demokratische Wurzeln wieder in das Bewusstsein gerückt werden müssen. Der Sozialstaat ist eine tragende Säule einer freiheitlichen Gesellschaft. Er muß die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen stets weiter entwickeln, damit alle Bürgerinnen und Bürger soziale Gerechtigkeit erfahren und Demokratie wieder als erstrebenswerte Errungenschaft erleben, die es zu verteidigen lohnt.

 

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