Die Nachricht.
Gefährden die Franzosen die EU-Verfassung ?
Knapp zwei Monate vor dem Referendum in Frankreich über die EU-Verfassung bestätigen mehrere Umfragen, dass eine deutliche Mehrheit der Franzosen mit Nein votieren wird. Die Zeitung "Le Figaro" veröffentlichte eine repräsentative Umfrage des Instituts Ipsos, wonach von den bereits entschlossenen Wählern 54 Prozent mit Nein und 46 Prozent mit Ja stimmen wollten. Es ist die vierte Umfrage innerhalb von zehn Tagen, in der sich eine Mehrheit gegen den Verfassungstext abzeichnet. Bei Anhängern der Sozialistischen Partei (PS) wurden 53 Prozent Nein-Sager ermittelt, während es bei der letzten Ipsos-Umfrage vor einer Woche erst 45 Prozent waren.
Diese Unzufriedenheit drückt keine Ablehnung des europäischen Projektes aus, aber die gegenwärtige Politik der Lissabon-Strategie, in dessen Zentrum die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit steht, und die Deregulierungspolitik ( Dienstleistungsrichtlinie) finden keine Unterstützung mehr . Ein große Koalition der politischen Linken ( Teile der Sozialisten, verschiedene kommunistische Strömungen, aber auch Teile der Gewerkschaften, soziale Organisationen und globalisierungskritische Organisationen ) lehnt die Verfassung ab, weil durch sie eine neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik festgeschrieben würde. Richtig ist auch, dass der rechtsradikale Front National auch zu einer Ablehnung der Verfassung aufruft. Während es den Rechtsradikalen um die Gefahr eines Verschwindens der Nation geht, will das linke Bündnis einen Politikwechsel in Frankreich und in Europa erreichen.
Bislang gibt es keinerlei Pläne für den Fall, dass das französische Referendum scheitert. Mit einem Nein in einem europäischen Kernland gerät sicherlich der gesamte Ratifizierungsprozess ins Stocken und die Europäische Union steckt in einer tiefen politischen Krise.
Die Herstellung des europäischen Binnenmarktes und die begleitenden Deregulierungsprozesse, verstärkt in der Lissabon-Strategie, führen zu der Konsequenz, dass sich die Sozialsysteme immer stärker unter Druck geraten. Zurecht unterstreichen die ideologischen Wortführer des Neoliberalismus wie z.B. der Ökonomieprofessor Siebert: Die Europäische Union der wichtigste Treiber in dem Prozess der Deregulierung. Das Konzept eines einheitlichen Marktes brach den heftigen Widerstand, den Interessengruppen der Liberalisierung entgegensetzten und die entsprechenden EU-Richtlinien trieben die Deregulierung voran. Dazu gehören etwa die EU-Richtlinien zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen (1989), zur Telekommunikation 1988, 1990 und 1995) , zum Schienenverkehr (1991 und 1995), zum Postwesen (1997) zur Stromversorgung (1997 ) und zur Gasversorgung (1998) . All diese Richtlinien haben die Entfesselung der Märkte und Privatisierung vorangetrieben mit den entsprechenden negativen Konsequenzen für Arbeitsplätze und die Versorgung mit öffentlichen Gütern. Dass nach heftigen sozialen Konflikten in Frankreich im sozialen Bereich und der Bildung die Mehrheit der Franzosen einen radikalen Politikwechsel durchsetzen wollen, muss niemandem verwundern. Die angekündigte politische Offensive des Präsidenten Chirac und der großen bürgerlichen Mehrheitspartei dürfte es schwer haben, die politischen Kräfteverhältnisse noch zu verändern.
Die gewerkschaftliche und politische Linke muss in Europa einen tiefgreifenden Politikwechsel durchsetzen. Wir brauchen eine reformpolitische Erneuerung des Europäischen Sozialmodells. Dies kann nur gelingen, wenn die Massenarbeitslosigkeit aufgehoben wird. Mit der Konzeption der Deregulierung, Privatisierung von sozialer Sicherung und öffentlichen Dienstleistungen sowie dem Übergang zur Marktsteuerung lassen sich solche Zielsetzung nicht erreichen. Ein Kurswechsel in Richtung der Stärkung des europäischen Binnenmarktes unterstellt die Veränderung von den überlieferten Kräfteverhältnissen zwischen Kapital und Lohnarbeit. Durch die Lissabon Strategie verlässt die Europäische Union den Entwicklungspfad des rheinischen Sozialstaatskapitalismus und schließt sich der Konzeption des angelsächsischen Aktionärs- oder Vermögenskapitalismus an. Mit Deregulierung und Privatisierung wird die Tendenz zur Transformation in Richtung leistungslosen Vermögenseinkommen verstärkt. Die Abwärtsspirale der Ökonomie dreht sich schneller, wohingegen eine Demokratisierung der Wirtschaft zu einem entschiedenen Politikwechsel führen würde, d.h. einer wesentlichen Verminderung der Massenarbeitslosigkeit und der Umweltgefährdung. Es gilt die Demokratisierung aber ausgehend vom Unternehmen, auch auf die Verteilung und die Kontrolle der Finanzmärkte zu erstrecken. Die kapitalistische Gesellschaft muss einer umfassenden demokratischen Kontrolle unterworfen werden.