Die Nachricht.
Blanke ökonomische Vernunft und Patriotismus
Bundeskanzler Schröder hat vor dem "Jobgipfel" die Vorstellungen der Regierungskoalition zur "Stärkung der Wachstumskräfte" vorgestellt. Die Oppositionsführerin hat dem Kanzler vorgehalten, angesichts gravierender Strukturprobleme bei der Dynamisierung der Marktwirtschaft stecken zu bleiben, wo es doch um die Neuerfindung der Politik gehe.
Joachim Bischoff
(17.3.2005)Das gesamte bürgerliche Lager (CDU, CSU, FDP, Unternehmerverbände) plädiert nach wie vor für eine Knallhart-Variante der Agenda 2010 (Abschaffung des Kündigungsschutzes, Aushebelung des Tarifrechts und der Mitbestimmung, Abkoppelung der Sozialbeiträge von der Lohnarbeit, weitere Privatisierungen). Demgegenüber hat Bundeskanzler Schröder hervorgehoben, dass es ein "wesentliches Anliegen der Agenda 2010 ist, das Prinzip der Sozialstaatlichkeit zu verteidigen." Schröder präsentiert die politische Konzeption der Koalition unter dem Generalnenner: Wir erhalten den Sozialstaat unter radikal veränderten Bedingungen und wir erhalten den sozialen Frieden, der ein eminent wichtiger Faktor für die Konkurrenzfähigkeit ist und der in anderen europäischen Ländern schon stark gefährdet ist.
"Die Agenda 2010 ist ein Instrument, um unter veränderten Bedingungen Sozialstaatlichkeit und damit den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu sichern." (Bundeskanzler Schröder in der Regierungserklärung vom 17.3.2005)
Nicht unsonst hat der Kanzler die Agenda 2010 als "größte Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik" bezeichnet. Erhebliche Summen sind zu Gunsten der Unternehmen und Wohlhabenden umgeschichtet worden. Schröder räumt unumwunden ein, dass die Unternehmen bei den Lohnkosten entlastet und durch Steuersenkungen begünstigt worden sind, und dass der Kündigungsschutz im Zuge der Hartz-Gesetze bereits unterlaufen wurde. Jetzt sei die Wirtschaft in der Pflicht: "Denn der Zusammenhalt unserer Gesellschaft, die soziale Kohäsion und der innere Friede bestimmen unseren wirklichen Reichtum, nicht die Renditen irgendeines Unternehmens." "Der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist kein Luxus, den man in schwieriger werdenden Zeiten beiseite schaffen könnte." (Bundeskanzler Schröder in der Regierungserklärung vom 17.3.2005)
Traurige Realität sei, dass die Unternehmen jede politische Maßnahme zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit einsteckten und sofort mit neuen Forderungen auftauchten. Die versprochene Einstellungsoffensive sei ausgeblieben. "Reformen sind nicht dann gut, wenn sie möglichst radikal sind." Unverholen wird die politische Karte ausgespielt, dass die rot-grüne Regierungskoalition angetreten sei, den inneren oder sozialen Frieden unter den veränderten Bedingungen sicherzustellen.
"Wer den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft infrage stellt, wer soziale Kohäsion als überflüssiges Zierwerk in guten Zeiten betrachtet, der stellt eben nicht nur wichtige Errungenschaften von Politik und Gesellschaft in unserem Land infrage, nein, er ist vielmehr dabei, den inneren Frieden zu zerstören. Der innere Frieden ist nicht zuletzt ein ökonomisches Datum, eine Voraussetzung auch dafür, erfolgreich und effizient zu produzieren." (Bundeskanzler Schröder in der Regierungserklärung vom 17.3.2005)
Die Opposition hat ihrerseits klar zum Ausdruck gebracht, dass der Sozialstaat, der früher viel gerühmte "soziale Friede" und das europäische Sozialmodell für sie keine Orientierungspunkte mehr sind. Merkels "Neuerfindung" der sozialen Marktwirtschaft läuft auf die reaktionäre Politik einer Rückkehr zur liberalistischen kapitalistischen Ökonomie alter Prägung hinaus. Begründet wird der wachsende Erfolg dieses neoliberalen Fundamentalismus damit, dass große Teile der Wahlbevölkerung zu weitreichenden Abstrichen bei sozialen Leistungen und Rechten aus Angst um ihren Arbeitsplatz bereit seien. Ungeniert hält Merkel dem Regierungschef vor, dass mit der Politik des schrittweisen Rückbaus des Sozialstaates die Republik immer mehr Gefahr laufe, in den Abgrund zu stürzen.
"Es ist ja interessant, dass dann, wenn, wie in diesem Fall, die eine Forderung erfüllt wurde, sogleich die nächste nachgeschoben wird. Das kann doch nicht sein. Die Unternehmen haben, wenn ich in diesem Bereich alles zusammennehme, fast 10 Milliarden Euro an potenziellen Lohnzusatzkosten einsparen können. Das führt zu verbesserter Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, auch und gerade der mittelständischen. Die Folge davon dürfen doch nicht Verlagerungsandrohungen sein, sondern die Antwort darauf muss sein, dass mehr Einstellungen vorgenommen werden." (Bundeskanzler Schröder in der Regierungserklärung vom 17.3.2005)
Die Regierungskoalition klagt: Die Agenda 2010 hat den Unternehmen und den Reichen bis an die Belastungsgrenzen der öffentlichen Haushalte gehende Vorteile gebracht, ohne dass dies zu zusätzenden Investitionen und mehr Beschäftigung geführt habe. Die illusionäre Redeweise von einem bevorstehenden Konjunkturaufschwung wird fallen gelassen. Nunmehr wird ein Maßnahmenbündel vorgestellt, das "neue und kräftige Impulse für Konjunktur und Beschäftigung" geben soll. Die Maßnahmen des Paketes werden diese Wirkungen nicht entfalten. Worum geht es:
- Weitere Flexibilisierung von Beschäftigung und Arbeitsmarkt,
- Entbürokratisierung bei Unternehmensgründungen,
- Absenkung des Mindestkapitals bei GmbH-Neugründungen,
- 2 Mrd.-Euro-Verkehrsprogramm,
- Förderung von Energienetzen, Kraftwerken und CO2-Gebäudesanierung,
- vorgezogene Unternehmenssteuerreform (Absenkung der Körperschaftssteuern von 25 auf 19% bei Verbreiterung der Bemessungsgrundlage).
Die Regierungskoalition muss zur Kenntnis nehmen, dass dass mit der massiven Zurückschneidung der sozialen Sicherungssysteme im Zuge der Agenda 2010 die wirtschaftliche Stagnation noch verfestigt und verlängert worden ist. In dem sich abzeichnenden Konjunkturabschwung wird auch die bislang überlegene Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht ohne Blessuren davon kommen. Es ist darauf verzichtet worden, die Massenkaufkraft und die öffentlichen Investitionen so auszuweiten, dass damit Binnennachfrage und -wirtschaft zu einem Gegengewicht zur erlahmenden internationalen Ökonomie werden können. Die Gefahr ist real, dass die internationale Konjunkturentwicklung nunmehr in stärkerem Maße negativ auf die nationale Ökonomie durchschlägt. Mit den vom Kanzler vorgetragenen Maßnahmen dürfte die angestrebte "Dynamisierung" der Wachstumskräfte nicht zu erreichen sein. Diese Maßnahmen bewegen sich entweder im Rahmen der Flexibilisierungs- und Deregulierungspolitik oder sie sind quantitativ so bescheiden, dass nur sehr geringe Wachstumsimpulse davon ausgehen.
Der Kanzler hat mehrfach darauf verwiesen, dass die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin zum Verzicht auf soziale Rechte und soziale Sicherheit bereit ist. Die Sozialdemokratie agiert immer mehr nach dem Motto: "Die Bürgerinnen und Bürger wissen doch ganz genau, dass Reformen sein müssen". Zur Anpassung - so die Logik - gäbe es keine Alternative. Fakt ist: Alternativen unterstellen einen entschiedenen Politikwechsel. Man kann zu mehr Investitionen, einem höheren Wirtschaftswachstum, mehr Sicherheit und öffentlichem wie privatem Wohlstand kommen, wenn man sich von der unsozialen Umverteilungs- und Deregulierungspolitik verabschiedet. Erneut versucht Schröder die Logik des kleineren Übels zu nutzen: Die bürgerlichen Parteien wollen euch mit den radikalen Reformen das nehmen, "was Generationen vor uns Mühe und Fleiß aufgebaut haben". Wir Sozialdemokraten geben weniger und dafür bleiben Euch soziale Standards und gesellschaftliche Teilhabe erhalten.
"Ich glaube also, dass wir die Gewerkschaften und die Beschäftigten ermuntern sollten, diesen Weg der Flexibilisierung in den Betrieben weiterzugehen. Das geschieht auch. Wir sollten aber aufpassen, dass wir nicht kontraproduktiv wirken, wenn wir sie mit gesetzlichen Regelungen, die die Tarifautonomie schwerstens infrage stellen, überziehen; kontraproduktiv insofern, als die Konflikte in der Arbeitswelt dann statt im Parlament und in Diskussionen in Zukunft stärker als im letzten Sommer auf der Straße ausgetragen werden. Das möchte ich wirklich nicht. Ich will keine anderen Länder nennen, aber Sie kennen sie alle." (Bundeskanzler Schröder in der Regierungserklärung vom 17.3.2005)
Doch die Überzeugungskraft dieser Rhethorik ist dahin: "Unser demokratischer und sozialer Rechtstaat braucht nicht 'zeitgemäße Regeln'", was heißt sich schrittweise der "ökonomischen Vernunft" oder der neuen Logik der Renditen unter zu ordnen. Die SPD könnte eigentlich begreifen, dass die portionsweise Opferung der sozialen Sicherheit und des Wohlstandes für alle auf den Altären des Shareholder value nichts bringt. Die Wirtschaft oder ihre Repräsentanten als unpatriotische Charaktermasken zu beschimpfen, weil sie nicht investieren, sondern nur an ihre Renditen denken, ist eine wenig zielführende Trockenübung. Das Kapital braucht keine Belehrung über ökonomische Vernunft, das Kapital braucht Regeln, Auflagen und Steuerung. Dazu ist gesellschaftliche Macht von Nöten, die die Regierungskoalition Zug um Zug aus der Hand gegeben hat. Wir kommen erst weiter, wenn die BürgerInnen auf ihre eigene Kraft vertrauen und eine politische Alternative gegen alle Versionen neoliberaler Politik stark machen.