Mindestlohn - Armut trotz Arbeit?
Klaus Ernst / Fritz Schmalzbauer
Zur Zeit wird von den Linksparteien und der Bundestagsfraktion eine bundesweite Kampagne zum Mindestlohn entwickelt. Sie wird auf unserem Bundesparteitag vorgestellt werden. Verdi und die Gewerkschaft NGG haben ihrerseits eine hervorragende Aktion geplant: www.mindestlohn.de . Mit Veranstaltungen, Aktionen und Plakatierungen wird „die Linke“ aus WASG und Linkspartei damit ein heißes Eisen anfassen. Die Konservativ-Neoliberalen sind naturgemäß dagegen oder wollen mit „Kombilöhnen“ Billigarbeit subventionieren, Müntefering und Teile der SPD -nahen Gewerkschaften versuchen sich mit „branchenbezogenen Mindestlöhnen“ durchzumogeln und die vielen Menschen, die trotz Arbeit arm bleiben, fallen derweil durchs soziale Raster.
Wir wollen an dieser Stelle die politische Debatte um den Mindestlohn anstoßen.
Vernichtet der Mindestlohn Arbeitsplätze?
Das Gegenteil ist der Fall. Weder in Frankreich noch in England käme jemand auf die Idee, Arbeitsplatzvernichtung mit Mindestlöhnen in Verbindung zu bringen. Ob 7.50€ oder 8€: Der Lohn ist nur ein oft sehr geringer Teil der Arbeitskosten, von den Gewinnen ganz zu schweigen. Allerdings ist der Mindestlohn Garant für ein (bescheidenes), menschenwürdiges Leben. Und er bedeutet Sozialversicherungsbeiträge und Massenkaufkraft.
Steht der Mindestlohn gegen die branchenbezogenen Tariflöhne?
Solange es keinen Mindestlohn gibt, sind die Tarifverträge Mindestlohn. Vorausgesetzt, es gibt überhaupt einen Tarifvertrag und er kommt zur Anwendung. Immer mehr Unternehmen entziehen sich durch Tarifflucht. Wenig erfreulich sind Tarifverträge, etwa bei Leiharbeitsfirmen und in anderen schlecht organisierten Gewerben, die oftmals unter einem Mindestlohn von 8 € liegen. (Allerdings kann man Tarifverträge nicht auf die Lohnfrage beschränken, ebenso wichtig sind Arbeitszeit, Urlaub usw.) Den Tarifverträgen kommt dort, wo sie gelten, trotz Mindestlohnes eine entscheidende Bedeutung zu. Sie regeln nämlich Arbeitszeit, Arbeitsentgelt und Arbeitsbedingungen auf der Grundlage des brachenspezifischen Kräfteverhältnisses.
In der Konsequenz werden Gewerkschaften und vor allem der DGB gestärkt.
Lenkt die Forderung nach gesetzlichen Regelungen nicht von betrieblichen Kämpfen ab?
Am Beispiel der Arbeitszeit lässt sich das Gegenteil beweisen. Schon im 19.Jhd. sind die Gewerkschaften und ihnen nahe stehende Parteien mit dem Ruf nach dem Achtstundentag in die politische Offensive gegangen. Das derzeit gültige Arbeitszeitgesetz schützt im Kern noch den Achtstundentag und die Ruhepausen, wenn auch die Kohlregierung bereits ihre neoliberale Handschrift eingetragen hatte. Daraus entsteht ein gesetzlicher Anspruch, der durch die Tarifvertragsparteien dort verbessert werden kann, wo die Gewerkschaften hinreichend stark sind. Der Mindestlohn wirkt den negativen Seiten der betriebsbezogenen Politik, der Ungleichheit bei gleicher Arbeit in verschiedenen Unternehmen, entgegen.
Profitieren nur die, die in Arbeit sind?
Nein, weil mit dem Mindestlohn eine Bezugsgröße für Transfertleistungen bei Arbeitslosigkeit erreicht wird. Außerdem schafft eine Mindestkaufkraft die Voraussetzungen für neue Arbeitsplätze, weil Waren und Dienstleistungen auch im Inland verstärkt nachgefragt werden.
Wäre es nicht besser, ein allgemeines Grundeinkommen zu fordern, das jedem zusteht?
Schön wär’s. Aber abgesehen von grundsätzlichen Erwägungen scheint es sinnvoller, Weihnachtsgeschenke nicht zu Ostern zu erwarten. Wer es mit dem „parlamentarischen Arm“ der sozialen Bewegungen, also allen voran den Gewerkschaften, ernst nimmt, sollte deren Forderungen in die Politik tragen. Und diese Forderung heißt Mindestlohn.
Kann der Staat überhaupt an die Stelle der „Tarifvertragsparteien“ treten?
Natürlich nicht. Mindestlöhne müssen von den Gewerkschaften in einer solidarischen Bewegung erkämpft werden – und zwar gegen die Phalanx der Arbeitgeberverbände. Und das ist die Krux: Damit wird der „politische Streik“ legitimiert. Schlägt sich nämlich „der Staat“ (Münte plus Merkel) auf die Seite der Arbeitgeberkartelle, geht es um „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“, also um ein in Artikel 9 Abs 3 Grundgesetz jedem abhängig Beschäftigten zustehendes Recht. Den Unsinn des politischen Streikverbots gibt es übrigens nur bei uns. Dieses Relikt des kalten Krieges muss überwunden werden.
Welche Wirkung hat ein gesetzlicher Mindestlohn?
Nehmen wir Frankreich. Wer dort den auf gesetzliche 35 Stunden bezogenen Mindestlohn nicht bezahlt, muss mit Verfolgung von Amts wegen rechnen. Bei den Tariflöhnen, die auf Antrag der Gewerkschaften und Arbeitgeber von den Arbeitsministerien als „allgemeinverbindlich“ erklärt werden, entsteht ein gesetzlicher Anspruch. Eine Nichtbefolgung wird zur Strafsache. Beispiel: Die Inhaber der Firma Schlecker wurden in Baden-Würtemberg rechtskräftig verurteilt und mussten zum Teil Jahre zurückbehaltenen Lohnes nachzahlen. Nur: Allgemeinverbindliche Löhne gibt es kaum mehr, weil sich die Unternehmer einer Branche über Löhne und Arbeitszeiten Marktvorteile zu verschaffen suchen. Seit dem Fall der Mauer bläst aus dieser neoliberalen Ecke der Wind immer heftiger. Wenn es aber Gewerkschaften in einzelnen Branchen nicht mehr gelingt, die „Lohnkonkurrenz“ durch Tarifverträge auszuschalten, muss durch ein breites gesellschaftliches Bündnis ein Mindestmaß an Lohn für den Verkauf der Arbeitskraft garantiert werden.
Soll sich „die Politik“ heraushalten?
Unter den Bedingungen der alten Bundesrepublik hat es ganz gut funktioniert: Tarifvertragshoheit der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände waren ein Grund, Ratschläge aus der Politik (zugunsten der Arbeitgeber) zurückzuweisen. Nun sind wir nicht in den 70ziger Jahren mit Lohnzuwächsen von teilweise über 10%. Kapitaleigner scheren sich allzu oft nicht mehr um tariffähige Verbände, wenn sie dadurch ein Extraschnäppchen auf Kosten geringer Löhne, verlängerter Arbeitszeiten und reduziertem Personal erreichen. Wir, die WASG, haben uns ja gerade deshalb gegründet: Uns schien es an der Zeit, die Machtfrage, die längst neu gestellt war, im Interesse der weniger Bemittelten neu zu beantworten. Der Politikanspruch muss heraus aus gewerkschaftlichen Nischen. Im Kern geht es um eine gewerkschaftliche Orientierung in der Politik und eine politische Orientierung in den Gewerkschaften. Und es geht um eine Vergesellschaftung der ökonomischen Kämpfe, nicht zuletzt wegen 6 Millionen Arbeitslosen.
Greift die Mindestlohnforderung nicht zu kurz?
Mindestlöhne sind keine Garantie für allgemein verbesserte gesellschaftliche Zustände. Aber sie sind ein Schritt dorthin. Sie stellen die Frage nach dem Preis der Ware Arbeitskraft über boomende Branchen hinaus. Sie stellen damit auch die Frage nach dem Wert der Menschen, nach Menschenwürde, Persönlichkeitsentfaltung und Gleichheit. Sie sind ein Teil des modernen Sozialstaates. Die Forderung nach einem Mindestlohn ohne Branchenkleinstaaterei ist daher ein mobilisierendes Element. Ihm muss eine neue Debatte um Arbeitszeiten folgen. Lohn und Arbeitszeiten, das weiß jeder abhängig Beschäftigte, sind nur zwei Seiten der selben Medaille.
Schreibt der Mindestlohn Frauen nicht auf der unteren Gehaltsstufe fest?
Tatsächlich sind viele Frauen in besonderer Weise von geringen Löhnen und Gehältern betroffen. Auch im Tarifsystem sind Frauen nicht vor Armut durch Arbeit geschützt. Das trifft beispielsweise im Einzelhandel zu, wo Frauen oft mit verkürzten Arbeitszeiten oder mit 400€ - Jobs abgespeist werden. Um dieser besonderen Verarmung – insbesondere bei Alleinerziehenden – entgegenzuwirken, müssen Untergrenzen durchgesetzt werden. Der Mindestlohn gehört dazu.