Konsequenter Abschluss eines organisationspolitischen Irrwegs
Der Bundesvorstand der WASG hat auf seiner Sitzung am 13. Mai 2006 die Amtsenthebung der Landesvorstände in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern beschlossen, um auf diesem Weg die angekündigten und vorbereiteten Konkurrenz-Kandidaturen der WASG-Landesverbände zu verhindern und entsprechende Wahlanzeigen durch Beauftragte des BuVos zurückzunehmen. Diese Beschlüsse vollenden eine schon lange angekündigte Absicht, die politischen Mehrheits-Entscheidungen zweier Landesverbände nicht hinnehmen, und deren Umsetzung selbst um den Preis einer Spaltung und großen politischen Schadens für den so genannten „Parteibildungsprozess“ verhindern zu wollen.
Mit diesen Beschlüssen hat der BuVo der WASG die schlechteste aller Möglichkeiten ergriffen, ein organisatorisches Dilemma und einen realen und bedeutenden politischen Konflikt in der jungen Geschichte der WASG aufzulösen. Verlierer werden durch diese Fehlentscheidung nahezu alle Beteiligten sein: Der Berliner Landesverband, fast 900 Mitglieder, wird bewusst zerschlagen. Er wird sich in mindestens drei Bestandteile auflösen – die UnterstützerInnen der Berliner Vorstands- und Landesparteitagsmehrheit für eine Eigenkandidatur, die BuVo- und Linkspartei.PDS ergebene Minderheit und drittens die wahrscheinlich größte Gruppe der Enttäuschten und Verbitterten, die der WASG den Rücken kehren. Zu den Verlierern zählen die namen- und zahllosen Opfer der neoliberalen Politik und der Unternehmerverbände, weil es nicht gelungen ist, eine politische Einheitsfront gegen diese Politik in Stellung zu bringen, die ihre inneren Widersprüche auszuhalten in der Lage ist, weil es der Kampf gegen den gemeinsamen Gegner erfordert. Zu den Verlierern zählt die Berliner Linkspartei.PDS, die eine große Chance verpasst, sich als authentisch linke Kraft wiederzubeleben und neu zu positionieren und in ihrer Wahlkampagne zu den Abgeordnetenhauswahlen noch mehr als schon bisher geschwächt wird. Zu den Verlierern zählt der Bundesvorstand der WASG, der einen überaus zweifelhaften Gewinn an formaler mit dem tief gehenden Verlust an politischer Autorität innerhalb der WASG und ihrer politischen Anhängerschaft erkauft hat und zu einem Erfüllungsgehilfen der von fast
Allen kritisieren Regierungspolitik der Linkspartei.PDS wurde. Und zu den Verlierern zählen natürlich die politisch überzeugten Anhängerinnen der Berliner Mehrheit, die wegen einer von vielen Seiten zurecht kritisierten, aber in jedem Fall in ehrlicher und gut begründeter Absicht gefällten Entscheidung, gegen die verheerende Politik des Berliner Senats aus Linkspartei.PDS und SPD eine Alleinkandidatur anzustreben, mit administrativen und politisch so schlecht begründeten wie statutarisch umstrittenen Maßnahmen des BuVos gemaßregelt wurden und somit geradezu in die sektiererischen politischen Abenteuer gedrängt werden, die mit den Maßnahmen vorgeblich bekämpft werden sollten.
Mehrheit gegen Mehrheit gegen Mehrheit
Das organisatorische Dilemma und der bedeutende politische Konflikt, an deren Lösung der Bundesvorstand jetzt komplett versagt hat, war lange in der WASG und in dem „Parteibildungsprozess“ abzusehen und wurde auf dem letzten Bundesparteitag in Ludwigshafen offenkundig:
Eine überwältigende Mehrheit der WASG lehnt die konkrete Politik des Bündnispartners Linkspartei.PDS in Berlin und Schwerin ab, nicht nur, weil sie inakzeptable Zugeständnisse an die neoliberalen Konzepte der SPD und der Wirtschaftsverbände beinhaltet, sondern diese Zugeständnisse gleichzeitig nicht etwas als Ausdruck realer Schwäche, sondern als alternativlose „moderne linke Politik“ rechtfertigt, und damit mehr als einmal zum ausdrücklichen Türöffner für die Interessen der neoliberalen Kräfte geworden ist.
Eine gleichgroße Mehrheit der WASG möchte trotz dieser Kritik den Aufbau einer neuen, gemeinsamen linken Partei mit der WASG und der Linkspartei.PDS im Zentrum fortsetzen und zu einem baldigen Ende bringen.
Eine nur geringfügig kleinere Mehrheit der WASG hält deshalb die Entscheidung der Mehrheit des Berliner Landesverbandes, diese Kritik an der Politik der Berliner und Schweriner Regierungen, mittels einer Konkurrenzkandidatur zum Ausdruck zu bringen für falsch.
Und schließlich hat eine äußerst knappe Mehrheit der WASG den Bundesvorstand ermächtigt, nötigenfalls auch ordnungspolitische Maßnahmen gegen den Berliner Landesverband zu ergreifen, um eine Eigenkandidatur zu verhindern. Für die unterlegene Minderheit war die Souveränität eines Landesverbandes ein hohes politisches Gut und die Priorität politischer vor organisatorischen Konfliktlösungen unumstößlich.
Umsetzung des Mehrheitswillens
Die politische Aufgabenstellung einer verantwortungsbewussten Leitung der WASG in einer solchen Situation und die kluge Umsetzung sich derart überkreuzender Mehrheitsverhältnisse war und ist eigentlich völlig klar:
- Die Aufnahme einer verstärkten und selbstbewussten Kritik an der Regierungspolitik der Linkspartei.PDS – nicht nur im Verborgenen und durch mehr oder wenige prominente Einzelfiguren, sondern öffentlich und durch Parteigremien, allen voran dem BuVo selbst.
- Die konstruktive Integration der Berliner Mehrheit und des Landesvorstandes (dito in Mecklenburg-Vorpommern) in die politische Entscheidungsfindung.
- Eine solidarische, aber offensive politische Kritik an dem Projekt einer Eigenkandidatur.
- Die Eröffnung von praktischen Alternativen, die alle Beteiligten einbezog und jedem Chancen einräumte, sich ohne das Gesicht zu verlieren, in eine neue Qualität von politischer Einheitsfront einzubringen.
- Die konsequente Bekämpfung eines Klimas von Ultimaten und Unvereinbarkeitserklärungen, deren finaler Ausweg in der immer noch besseren Alternative, als die jetzt gewählte, bestände, dass ein offenes Eingeständnis, dass es in Berlin „noch nicht zusammengehe, aber immerhin auch nicht gegeneinander“, auch politisch vertretbar wäre.
Wäre ein solcher Weg seit Herbst 2005 eingeschlagen worden, wäre in Berlin und Mecklenburg Vorpommern sehr viel zu bewegen gewesen. Selbst ein Beschreiten dieses Weges erst nach dem Ludwigshafener Parteitag hätte noch viel erreichen können. Und noch einmal: selbst wenn heute eventuell nur die Lösung bleibt, die Berliner WASG verfolgt keine Eigenkandidatur, aber sie beteiligt sich auch nicht an einer gemeinsamen Kandidatur mit der Linkspartei.PDS. So ist dies immer noch ein klarer Ausdruck von politischer Ehrlichkeit, Achtung vor Mehrheitsbeschlüssen in Bund und Land und zugleich Ausgangspunkt vertiefter und vertiefender Debatten im Rahmen des Parteibildungsprozesses.
Ratlosigkeit, Aussitzen und falsche Ziele
Stattdessen hat die Mehrheit des Bundesvorstandes, gegen die ständig eingebrachten alternativen Vorschläge der BuVo-Minderheit, namentlich vom Verfasser selbst, sich für eine Mischung aus Ratlosigkeit, Abwartehaltung und völlig falschen Mitteln und auch Zielsetzungen angesichts der für alle erkennbaren Lage in Berlin entschieden.
Eine selbstbewusste politische Kritik an der Berliner Linkspartei.PDS blieb aus beziehungsweise wurde Oskar Lafontaines Einzelauftritten oder Gemurre im Verborgenen überlassen. Die Berliner Mehrheit wurde nicht in die Klärung einbezogen, sondern fast systematisch ausgegrenzt. Und schlimmer noch: spätestens seit Ende 2005 wurde offen der Aufbau von und die privilegierte Zusammenarbeit mit Berliner Parallelstrukturen gesucht. Man könnte es auch Organisierung der Spaltung nennen. Selbst der hinter dem Rücken des BuVos ausgehandelte „Kompromiss“ mit der Berliner Linkspartei.PDS, wurde ausschließlich als Kampfmittel gegen die Berliner Mehrheit eingesetzt, anstatt als Integrationsangebot. Über die Entscheidung zur Eigenkandidatur wurde weder im BuVo noch mit der Berliner Mehrheit zu irgendeinen Zeitpunkt politisch diskutiert, sondern nur im Stile eines fantasielosen preußischen Kommisskopfes (die ja auch in Bayern und Franken vorkommen sollen) gepoltert, sie „wäre verboten“. Und statt konsequent das Klima aus Ultimaten und Schreckszenarien zu bekämpfen, beteiligte sich der BuVo und einige seiner Mitglieder an vorderster Front dabei, es zu erzeugen. Trauriger Höhepunkt waren dabei sicherlich die Tage vor dem Bundesparteitag und der Parteitag selbst.
Auch heute wäre ein Kurswechsel in die oben beschriebene Richtung noch möglich und sinnvoll. Angesichts der verbitterten Stimmung in Berlin und der „Sieger“mentalität sowie zentralistisch-bürokratischen „Haudrauf-Ziehdurch“-Fantasien bei der BuVo-Mehrheit bleibt allerdings nicht viel Hoffnung.
So soll wenigstens ein Appell zu Schluss stehen:
Liebe Berliner: verzichtet auf das politische Abenteuer Eigenkandidatur!
Lieber Bundesvorstand: nimm sofort deine Beschlüsse vom 13. Mai zurück!
Und alle zusammen: Gesteht euch und der Öffentlichkeit ein, dass es in Berlin zurzeit eben noch nicht gemeinsam geht! Also soll die Linkspartei.PDS allein kandidieren und die WASG macht eine kritische Wahlkampagne gegen die herrschende Berliner Politik (die auch dort immer noch die Politik der Herrschenden und nicht der Wolf und Liebich und Lederer ist), aber ohne selbst zu kandidieren.
Davon wird die Welt nicht untergehen, dem Parteibildungsprozess könnte es sogar nützlich sein.
Köln 14. Mai 2006
Thies Gleiss