Der Durchmarsch der Hartz-IV-Parteien
Von Friedhelm Grützner
Drei Wochen nach der Ersten Lesung des „Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende“ und einer kurzen Beratungsfarce in den Ausschüssen traf sich das Bundestagsplenum am 1. Juni, um die weitere Verschärfung von Hartz IV brav abzunicken. Anders als am 11. Mai, wo das Thema in die späten Abendstunden verschoben wurde, traute man sich diesmal, darüber gleich zweimal – in Form einer Aktuellen Stunde und später in der 2. und 3. Lesung – im hellen Tageslicht zu verhandeln.
Erheblich gefördert wurde der sich hier ausdrückende Mut durch die mediale Claque, welche im Vorfeld der Bundestagssitzung ihr populistisches Hetzpotential entfaltete. So jubilierte SPIEGEL-online in dicker Balkenüberschrift „Hartz-IV-Betrüger sollen büßen“ und kündigte an, dass „zukünftig nicht mehr lange gefackelt werden soll“, um anschließend genüsslich den „Strafkatalog“ herunterzubeten. Der Oberschwadroneur des STERN, Hans-Ulrich Jörges – laut TAZ ein „meinungsstarker, aber faktenschwacher Großjournalist“ -, fabulierte gar davon, dass sich Hartz IV als „komfortabelster Ausbau“ des Sozialstaats „in der deutschen Sozialgeschichte entpuppte.“ Und zu guter Letzt ließ auch noch Sabine Christiansen in ihrer allsonntäglich ausgestrahlten neoliberalen Quasselrunde das Thema "Arm durch Arbeit, reich durch Hartz IV?" diskutieren.
Derart aufgemuntert und mit Vorurteilen gefüttert konnten die Abgeordneten der Großen Koalition (assistiert durch ihren Hilfstrupp FDP) in den beiden Debatten ihrer derzeitigen Lieblingsbeschäftigung – der Bekämpfung des angeblichen „Missbrauchs“ bei Hartz IV – nachgehen. Dass sie diese Diskussion ohne empirische Grundlage führten, muss uns nicht weiter verwundern, denn es ist eine sozialpsychologisch gut belegte Tatsache, dass Vorurteile sich einer faktenmäßigen Überprüfung entziehen, und der Ressentimentgeladene letztere sogar als existenzielle Bedrohung empfindet.
Wir alle wissen, wenn sich die Kloake ausbreitet, dann fängt es an zu stinken. Dieser Eindruck drängte sich vor allem in den CDU/CSU-Redebeiträgen auf, wo eine übel riechende Mixtur aus expliziten und impliziten Unterstellungen, subtextuellen Andeutungen, naiver Weltfremdheit und „gesundem Volksempfinden“ verbreitet wurde. In mehreren Variationen und vielfach abgewandelt tauchte dabei immer wieder der „wirklich Bedürftige“ auf, der „sich redlich um Arbeit bemüht“, der aber von nicht näher bezeichneten Nutznießern des Systems angeblich „in Misskredit gebracht“ wird - so die CDU-Abgeordnete Ilse Falk. Was ein „wirklich Bedürftiger“ nun „wirklich“ ist - und worin er sich vom „unwirklichen“ unterscheidet -, wurde von Frau Falk in ihrem Debattenbeitrag nicht weiter erläutert. Ihre diesbezüglichen Lamenti blieben völlig vage und verloren sich im allgemeinen moralisierenden Geschwätz.
Wenn Abgeordnete ein Gesetz zur „Grundsicherung“ diskutieren, dann müssen wir als Bürger verlangen, dass sie ganz bestimmte Anforderungen erfüllen. Sie dürfen sich nicht an Stammtischsprüchen oder irgendwelchen Ressentiments orientieren. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, in klarer und operationalisierter Form zwischen Bedürftigen und Nichtbedürftigen zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang ließe sich dann über Bedürftigkeit und Nichtbedürftigkeit anhand konkreter Fakten politisch trefflich streiten. Diffuse Wortbildungen wie „wirklich“ vernebeln dagegen alles. Politischer Streit ist jedoch heute innerhalb unserer selbsternannten Elite unerwünscht. Es geht ihr nur noch darum – und die Bundestagsdebatte legte dafür beredtes Zeugnis ab -, durch unbewiesene Behauptungen und subtextuell gestreute Verleumdungen die unteren sozialen Segmente gegeneinander auszuspielen sowie innerhalb der sich selbst bedroht fühlenden Mittelschichten die soziale Demontage durch Mobilisierung vorpolitischer Instinkte populistisch abzusichern.
Diese Absicht wurde besonders eindrucksvoll in den Ausführungen des CDU-Abgeordneten Karl Schiewerling deutlich, der tatsächlich seinen Zuhörern zu suggerieren suchte, dass Firmen geradezu verzweifelt nach Arbeitskräften fahndeten, und nur die sich hartnäckig entziehenden „faulen“ Arbeitslosen würden Vollbeschäftigung verhindern, was ihn zu der Schlussfolgerung veranlasste: „Jeder, der die Möglichkeit hat, sich mit seiner Hände Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen, hat auch die Pflicht dazu, seine Familie damit zu ernähren.“ Dass es jedoch die vielen Arbeitsplätze, die „eine Familie ernähren“, schlicht nicht gibt, spielte in der Suada dieses CDU-Bundestagsabgeordneten keine Rolle. Während seiner Rede verwechselte er offensichtlich das Parlament mit dem heimatlichen Stammtisch. Aber wie oben schon ausgeführt: Vorurteile sind gegenüber der Empirie immun, und am CDU-Stammtisch hat die Vernunft zu schweigen.
Infam wurden die Darlegungen von CDU-Schiewerling, als er die materielle Not der Langzeitarbeitslosen in seine Stimmungsmache einbaute. Denn in der Erkenntnis, dass Arbeitsplätze fehlen, die „eine Familie ernähren“, hatte der Bundestag in einem lichten Moment beschlossen, die Zuverdienstmöglichkeiten für ALG-II-Empfänger zu verbessern. Dies geschah auch, um ihnen wenigstens einen Spaltbreit den Kontakt zum Arbeitsmarkt zu öffnen. Aber wenn dann Arbeitslose als korrekte und gesetzestreue Bürger bei der Bundesagentur für Arbeit nachfragen, wie es sich mit diesen Möglichkeiten verhält, dann ist Herrn Schiewerling das auch wieder nicht recht: „Statt aus der Grundsicherung herauskommen zu wollen und auf eigenen Beinen zu stehen (Ja, wie denn? Kennt Herr Schiewerling die Arbeitsmarktdaten nicht? F.G.), verharren einige lieber in der Grundsicherung (woher weiß er das? F.G.) und verdienen ein paar Euro dazu.“ Abgesehen von dem geringen Respekt, den hier ein Abgeordneter der von ihm selbst mit beschlossenen Gesetzgebung bekundet, ist hervorzuheben, dass dieser zu reinen Agitationszwecken ganz bewusst Ursache und Wirkung verwechselt. Die vom Gesetzgeber gewollte und geförderte Bereitschaft von Langzeitarbeitslosen, sich angesichts der prekären Lage auf dem Arbeitsmarkt ganz legal ein paar Euro zu ihrem kärglichen ALG II hinzuzuverdienen, wird von ihm gegen sie ausgespielt – und dies, obwohl gewiss der überwiegende Teil der Betroffenen liebend gern einen Vollerwerbplatz mit einem ausreichenden Einkommen hätte, wenn es sie denn nur gäbe.
Es war der Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Oskar Lafontaine, welcher der vor ihm sitzenden Ignorantenschar die eigentlich auch ihr bekannten Zusammenhänge erläutern musste: „Ein amerikanischer Nobelpreisträger, Bob Solow, hat einmal gesagt, die Hartz-Gesetze hätten vielleicht dann einen Sinn gehabt, wenn zuerst die Konjunktur in Gang gekommen und massiv neue Arbeitsplätze entstanden wären und anschließend diese Politik ins Werk gesetzt worden wäre. Er hat gesagt, es sei ein Grundfehler, Druck auf die Arbeitslosen auszuüben, bevor überhaupt neue Arbeitsplätze geschaffen worden seien. Dies gilt nach wie vor: Die Arbeitsplätze fehlen in weiten Bereichen unserer Gesellschaft; aber der Druck auf die Arbeitslosen wird immer weiter verschärft.“ Auf diese durchaus „systemimmanente“ Kritik wusste die Bundestagsmehrheit nichts zu antworten. Nur ein paar unqualifizierte Zwischenrufe störten das laute Schweigen.
Nach einigen Krokodilstränen über die „wirklich“ Bedürftigen (wir kennen dies ja schon von Frau Falk), wandte sich CDU-Schiewerling dem von ihm empirisch nicht näher nachgewiesenen Teil jener Arbeitslosen zu, „die sich in der Grundsicherung einrichten wollen und ziemlich anreizresistent sind. Ihnen wollen wir mit den nun zu beschließenden Sanktionen auf die Sprünge helfen.“ Der Begriff „anreizresistent“ hat es wirklich in sich! Denn in ihm verbindet sich die reduktionistisch-menschenverachtende Anthropologie der neoklassischen Volkswirtschaftslehre, welche die Menschen nur noch als mittels „Anreize“ zu dressierende „Pawlowsche Hunde“ betrachtet, mit den erziehungsdiktatorischen Implikationen des autoritären Fürsorgestaats, der die Hungerpeitsche schwingt, um die Menschen gefügig zu machen. Da ist kein Raum mehr für die rechtlich-politische Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger, da wird die Vorstellung vom Menschen als „Zweck an sich, der niemals ausschließlich Mittel zum Zweck sein darf“ (Kant) als antiquiertes Ideologem beiseite gelegt. Da ist auch für eine christlich abgeleitete Menschenwürde kein Platz mehr. Übrig bleibt nur noch das als „Freiheit“ getarnte sozialdarwinistische „Rattenrennen nach unten“. Es verdient festgehalten zu werden, dass sich zu solchen Tönen ein aufgrund seiner Parteizugehörigkeit wohl subjektiv als „Christ“ verstehender Politiker hergab. Wie tief ist doch die Christlich-Demokratische Union seit den Tagen eines Jakob Kaiser, Hans Katzer sowie zuletzt Norbert Blüm und Heiner Geißler gesunken.
Während die CDU/CSU-Abgeordneten in ihren Debattenbeiträgen noch einigermaßen nachvollziehbar das „gesunde Volksempfinden“ aufrührten und dabei die Vorurteile des Stammtisches bedienten, so war es den Sozialdemokraten vorbehalten, die Beweislastumkehr bei eheähnlichen Gemeinschaften in einer Weise zu rechtfertigen, dass man sich unwillkürlich fragen muss, ob sie bei diesem traurigen Gegenstand ein parlamentarisches Possenspiel abziehen wollten.
Ich rekapituliere: Das Bundesverfassungsgericht hat für die Anrechenbarkeit von Einkommen bei unverheirateten Paaren äußerst strenge Maßstäbe gesetzt. Denn es gibt innerhalb solcher Beziehungen keine einklagbaren Unterhaltsansprüche, und das Bundesverfassungsgericht wollte eine daraus resultierende eventuelle „Rechtlosstellung“ von Hilfebedürftigen als mit der Rechtsordnung unvereinbar vermeiden. Dies versetzte die ARGE’n bei den Bemühungen, möglichst viele angebliche Lebenspartner haftbar zu machen, regelmäßig vor den Sozialgerichten in Beweisnot. Eine juristische „Klatsche“ nach der anderen ließ die diesbezüglichen Bestimmungen des SGB II in vielen Fällen zur reinen Makulatur werden (die teilweise sarkastischen Urteilsbegründungen des Sozialgerichts Düsseldorf sind in diesem Zusammenhang recht amüsant zu lesen). Die Hartz-IV-Parteien verfielen daher auf die rechtsstaatlich anrüchige Idee, die Beweisnot von den ARGE’n auf die Arbeitslosen zu verlagern. Dabei nahmen sie billigend in Kauf, dass Hilfebedürftige zukünftig „rechtlos“ gestellt werden, da „vermutete“ innere Einstellungen äußerst schwierig bis unmöglich zu widerlegen sind, was den Intentionen des Bundesverfassungsgerichts strikt zuwiderläuft.
In der Debatte erfrechten sich nun die Sozialdemokraten, die eindeutige Rechtsverschlechterung und potentielle „Rechtlosstellung“ von Hilfebedürftigen in vermuteten eheähnlichen Beziehungen als soziale Errungenschaft herauszustreichen. So meinte der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes, dass die Beweislastumkehr „eher zum Vorteil der Betroffenen“ ausschlage. Es war aber vor allem die angebliche Frontfrau der SPD-„Linken“, Andrea Nahles, die gleich in mehreren Beiträgen in einem geradezu atemberaubenden Zynismus hier die parlamentarische Drecksarbeit für Franz Müntefering erledigte. Ihr Auftritt diente wohl der öffentlichen Buße. Schließlich hatte sie sich angemaßt, gegen den Willen ihres damaligen Parteivorsitzenden zur Generalsekretärin aufzusteigen. Der moralische Bankrott der SPD-„Linken“ hört sich so an: „Deswegen stehe ich klipp und klar dazu, die Beweislastumkehr einzuführen; das heißt, wir wollen bundeseinheitlich klären, was eine Bedarfsgemeinschaft ist. ... Die Betroffenen bekommen eine klarere Rechtsgrundlage. ... Ich meine, dass wir mehr Rechtssicherheit schaffen und eine bundeseinheitliche Regelung einführen sollten. Das würde keine Verschlechterung, sondern eine Verbesserung für die Menschen bedeuten.“ Aber mit diesen Ausführungen war das flagellantische Auftreten der Andrea Nahles, die es unternahm, auf von ihr früher eingenommene Positionen zu speien, noch nicht vorbei. Aus dem Mittelalter wissen wir ja, dass Flagellanten im „Bußrausch“ nur schwer zu stoppen sind. Gegenüber Klaus Ernst von der WASG hob sie hervor, dass „gerade durch die Beweislastumkehr die von Ihnen nicht ganz zu Unrecht kritisierten so genannten Schnüffelaktionen verhinder(t) werden. (Ja, wo denn? Die ARGE’n sollen doch flächendeckend einen Schnüffeldienst einrichten, dessen Arbeit durch die Beweislastumkehr erheblich erleichtert wird. Hier lügt Frau Nahles! F.G.) Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass es sich hier um eine Verbesserung der Rechtslage für die Betroffenen handelt und nicht um eine Verschlechterung.“
Nun sitzen allerdings seit 2005 die LINKEN im Bundestag, so dass die dort von den Hartz-IV-Parteien verbreiteten Lügen nicht mehr unwidersprochen ins Land gehen können. Klaus Ernst machte denn auch dem Plenum schnell klar, dass die von Frau Nahles behauptete „Verbesserung der Rechtslage für die Betroffenen“ vor allem darin besteht, dass dieselben die „Vermutung“ der ARGE’n in der Regel nur noch durch Auflösungen von Wohngemeinschaften „widerlegen“ können. „Diese Umkehr der Beweislast führt dazu, dass jemand, der mit einem anderen in einer Wohngemeinschaft lebt, künftig nachweisen muss, dass er nicht für ihn einsteht und sich nicht solidarisch mit ihm verhält. Das führt dazu, dass Leute in solchen Gemeinschaften künftig ausziehen werden müssen, wenn in ihrer Gemeinschaft ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger wohnt. Das ist Ihre Politik und das ist Unfug, Frau Nahles.“ Darauf wussten die Sozialdemokraten nichts mehr zu erwidern. Man darf wohl gespannt sein, wie die Justiz auf ein parlamentarisches Bubenstück reagieren wird, wo im Wege der einfachen Gesetzgebung die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgehebelt werden soll.
Insgesamt war dies der zweite Versuch, an der Hartz-IV-Gesetzgebung herumzudoktern. Es wird wohl nicht der letzte sein. Hierzu meinte der FDP-Abgeordnete Kolb spöttisch: „Das regt natürlich schon die Phantasie an, was uns auf dem Weg von >Hartz IV – das Gesetz< über >Hartz IV – die Änderung< und >Hartz IV – die Fortentwicklung< bis irgendwann zu >Hartz IV – die finale Optimierung< noch alles erwarten wird.“ Recht hat er, der Herr Kolb! Aber wir wissen auch, was die FDP unter einer „finalen Optimierung“ von Hartz IV versteht: Es ist das Arbeitshaus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in das die Arbeitslosen zwangsweise einzuliefern sind.
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