Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit
Eine andere Politik ist möglich!

Zum Politischen Profil der neuen Linkspartei

Viele Akteure in den sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und globalisierungskritischen Organisationen – auch in dem Projekt einer neuen Linkspartei – hatten bis vor kurzem – ein klares politisches  Weltbild: Die SPD-Politik der Agenda 2010 war neoliberal, sozial ungerecht und ökonomisch falsch.

Seit der SPD- Vorsitzende im Rahmen der Debatte um ein neues Grundsatzprogramm  die Übermacht des Kapitals angegriffen hat, ist die Lage unübersichtlicher geworden. Kapitalismuskritik ist chic, die Polemik von Müntefering gegen den Shareholder value wird von vielen als Befreiungsschlag gefeiert und plötzlich steht in allen Medienkanälen das kapitalistische Wirtschaftssystem auf dem Prüfstand.

Grundsatzprogramme haben für die SPD eine besondere Bedeutung, weil in ihm - gestützt auf Grundwerte – die Bezüge  zur historischen Situation hergestellt , also eine Zeitdiagnose vorgelegt wird. Im Rahmen dieser Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm hat eine Rede von Müntefering für politische Aufmerksamkeit und Widerspruch gesorgt: der SPD – Chef  kritisierte die zunehmende Dominanz der Wirtschaft in der Gesellschaft und sieht darin eine Gefahr für die Demokratie.
„Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profithandelns. Denn dadurch geraten einzelne Menschen und die Zukunftsfähigkeit ganzer Unternehmen und Regionen aus dem Blick.“ Die Handlungsfähigkeit des Staates werde rücksichtslos reduziert. Münteferings Schlussfolgerung: Auf diese Entwicklung müssen wir politisch reagieren: Wo der Nationalstaat an die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten stößt, könnte die Europäische Union und könnten Institutionen der Internationalen Völkergemeinschaft wirkungsvoll handeln.“

Prominente Kritiker des Neoliberalismus - und zwar parteiübergreifend - haben jetzt eine Öffentlichkeit , heißen sie nun  Müntefering, Geißler, Blüm oder Seehofer.  2/3 der Deutschen finden diese Kritik am „Raubtierkapitalismus“ gerechtfertigt und glauben zugleich der SPD kein Wort. Sie sind zumindest misstrauisch über diese politische Wendung. Zumal führende Politiker der SPD mit Müntefering darin übereinstimmen, dass ein politisches Abrücken von der Agenda 2010 nicht notwendig ist. Die Kritik an den Auswüchsen des modernen Kapitalismus habe keine Konsensen für die Regierungspolitik.

Dass diese Kritik auf die gewachsene Macht des Kapitals in der Öffentlichkeit Erstaunen auslöst, deutet daraufhin, dass viele von der deutschen Sozialdemokratie eine klassenkämpferische Rhetorik nicht mehr erwartet hatten. Es handelt sich aber nicht um eine verbalradikale Entgleisung eines Politikers, sondern um eine Linie der Partei, die in allen bisherigen Sitzungen des Programmforums bekräftigt worden ist.

Schon bei der vorangegangenen Arbeitssitzung zum Grundsatzprogramm argumentierte Müntefering: „Wirtschaft ist für die Menschen da, nicht umgekehrt. Viele Unternehmer halten sich auch im Zeitalter der Globalisierung daran, leider nicht alle...Die Zähmung des Kapitalismus, der längst international agiert, bleibt eine Aufgabe der Sozialdemokratie weltweit. Diese Aufgabe darf nicht ablenken von konsequenter nationaler Wirtschaftspolitik, aber sie darf auch nicht gering geschätzt werden.“

Wie ordnet sich die WASG in diese aufkommende gesellschaftliche Diskussion ein? Wir wollen im folgenden diesem Widerspruch von Kapitalismuskritik und sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik nachgehen und einige Thesen für die Wahlalternative zu skizzieren.


Ökonomische Stagnation und soziale Spaltung

 
Bei vielen Interpretationen über den Hintergrund der Attacke von Müntefering auf die Auswüchse im modernen Kapitalismus werden wahltaktische Überlegungen in das Zentrum gerückt. Wir denken, dass die große Resonanz vielmehr von der von vielen BürgerInnen wahrgenommenen Zuspitzung der sozialen Gegensätze herrührt. Die soziale Ungleichheit hat unter der rotgrünen Regierungskoalition deutlich zugenommen, die hohe Arbeitslosigkeit in eine deutliches Zeichen für die ökonomische Stagnation und die Politik der Agenda 2010 hat keinen Ansatz der Verbesserung hervorgebracht, sondern die soziale Abwärtsspirale beschleunigt. „In diese Landschaft platzierte Franz Müntefering sein kapitalismuskritisches Fanal. Und insofern konnte es gar nicht so sehr überraschen, dass die Resonanz der Bevölkerung außerordentlich groß war (Walter in SZ vom 28.4.2005) Im einzelnen:

1. Der zweite Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung dokumentiert, dass die soziale Spaltung größer geworden ist und dass das Armutsrisiko in erheblichem Umfang mit Arbeitslosigkeit korrespondiert. Die Vermögenssituation privater Haushalte hängt unmittelbar und wechselseitig mit der Einkommensverteilung zusammen. Während die unteren 50% der Haushalte nur über etwas weniger als 4% des gesamten Nettovermögens(ohne Betriebsvermögen) verfügen, entfallen auf die vermögendsten 10% der Haushalte knapp 47%. Der Anteil des obersten Zehntels ist bis 2003 gegenüber 1998 um gut 2 Prozentpunkte gestiegen.

2. An dieser Entwicklung wird sich nichts ändern, wie die Wirtschaftsinstitute in ihrem Frühjahrgutachten 2005 feststellen. In ihrer Prognose heißt es: die Abflachung des Wirtschaftswachstums ist „auch mehr und mehr in das Bewusstsein der Wirtschaftssubjekte gedrungen, die für die Zukunft einen nur noch geringen Anstieg der Einkommen erwarten und entsprechende zurückhaltend bei ihren Konsum- und Investitionsentscheidungen sind. Bereits heute sinken die Realeinkommen weiter Bevölkerungskreise. So werden die Renten 2005 zum zweiten Mal in Folge nicht erhöht, und die Effektivlöhne sind seit einiger Zeit kaum noch gestiegen. Daran wird sich in den nächsten Jahren Wesentliches nur dann ändern, wenn ein höheres Wachstumstempo erreicht wird.“( S. 70) .

Im Frühjahrsgutachten wird festgestellt, dass die derzeitige Wachstumsschwäche bereits seit zehn Jahren andauert und strukturelle Ursachen hat. Der eigentliche Grund dieser Fehlentwicklung liegt in der schwachen Binnennachfrage. Hierfür sind die Lohnentwicklung und die Kürzungen der Sozialeinkommen der wichtigste Faktor. Die Reallöhne stagnieren seit Jahren und folglich haben alle Sozialkassen chronische Einnahmeprobleme. Umgekehrt sprudeln trotz verhaltener Wirtschaftsentwicklung die Unternehmensgewinne kräftig. Die Renten sind mit Blick auf die Kaufkraft und zusätzliche Sozialabgaben für die Altersrentner gesunken. Während im letzten Jahr die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um über 10 % angestiegen sind, haben die Bezieher von Arbeitseinkommen nicht einmal einen Ausgleich für die Preissteigerungen erhalten.

3.  Die ökonomische und soziale Fehlentwicklung ist nicht vom Himmel gefallen oder das unbeeinflussbare Resultat von Sachzwängen (Globalisierung). Die Regierung betreibt eine Politik, die für diese Entwicklung verantwortlich ist. Dabei geht es im wesentlichen um drei Punkte:

A. Die große Steuerreform, die allerdings die Unternehmen, die Wohlhabenden und BürgerInnen mit höherem Einkommen eindeutig begünstigt hat.

B. Die Reformen am Arbeitsmarkt, vor allem:
    - Umbau der Arbeitsverwaltung
    - Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für  Erwerbsfähige
     als Kernstück der Arbeitsmarktreform

C. Die Reformen der sozialen Sicherung, vor allem:
    - GKV-Modernisierungsgesetz
    - Rentenreformen 2003/2004, insbesondere RV-Nachhaltigkeitsgesetz und
      das Alterseinkünftegesetz
    - Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder

Es hat sich gezeigt, dass diese Politik immer tiefer in eine gesellschaftspolitische Sackgasse führt. Erneut steht das Land nicht vor einem wirtschaftlichen Aufschwung, sondern vor einer erneuten Schwächephase. Die private Konsumnachfrage kann nicht anziehen, es fehlt die nötige Kaufkraft; Investitionen der Unternehmen bleiben aus, weil der nötige Absatz fehlt.

Kritisch zu debattieren wäre, wie tief diese Abwärtstendenz die gesellschaftlichen Ökonomie hinabziehen wird. Aber selbst bei der These , dass das reale Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr um 0,7 % zunimmt,  zeichnet sich erneut  eine Zuspitzung der sozialen Spaltung ab:
· Die Steuereinnahmen werden deutlich hinter den Prognosen zurückbleiben
· Die Sozialabgaben werden die bestehenden Finanzprobleme bei den Krankenkassen, Rentenkassen und der Bundesagentur für Arbeit verschärfen.

Abgesehen von den Einnahmeproblemen dürften Mehrausgaben für die Finanzierung der Arbeitslosigkeit anfallen. Zudem ist die Gegenfinanzierung der auf dem Jobgipfel verabredeten Steuersenkungen fraglich geworden, was eine weitere Zunahme der Verschuldung der öffentlichen Haushalte befürchten läßt


Rotgrüner Scherbenhaufen

Die rotgrüne Regierung mag sich mit ihrem Optimismus über den Wahltermin in NRW retten. Aber mit dem sich abzeichnenden schlechten Ergebnis für Rotgrün wird eine politische Bilanz über die rotgrüne Politik fällig. Von Beginn an hat sich diese Politik im Alltagsbewusstsein eines Großteils der Bevölkerung als Wahlbetrug eingenistet. Die Regierungskoalition hatte im Wahljahr 2002 versprochen:
· Das bewährte Sozialmodell werde fortentwickelt, Wohlstand gesichert und die Beschäftigung für alle angestrebt;
· Bei der Reform von Arbeitslosen- und Sozialhilfe werde es keine Absenkung der künftigen Leistungen auf das Sozialhilfeniveau geben;
· Die weitere öffentliche Verschuldung werde gestoppt.

Im März 2003 wurde dem Wahlbetrug systematisches Profil verliehen. Bundeskanzler Schröder präsentierte die Agenda 2010 im Bundestag als weit über die laufendes Legislaturperiode angelegt. Die Agenda 2010 – so Schröder im März 2005, zwei Jahre später  – sei „die Antwort auf zwei große Herausforderungen, denen unsere Gesellschaft wie viele andere Gesellschaften in Europa ausgesetzt ist: zum einen der Herausforderung, die mit der Globalisierung unserer Wirtschaft und damit der Globalisierung des Wirtschaftens zusammenhängt, und zum anderen einem radikal veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft. Die Agenda 2010 ist ein Instrument, um unter veränderten Bedingungen Sozialstaatlichkeit und damit den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu sichern..“

Ein großer Teil der Wähler der Sozialdemokratie hat seit den Bundestagswahlen 2002 auf den offenkundigen Wahlbetrug mit Stimmenthaltung reagiert. Jetzt kommt hinzu, dass sich die Reformen der Agenda 2010 eben nicht in eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums und Verminderung der Arbeitslosigkeit umgesetzt haben. Die Politik der neuen „angebotsorientierten“ Agenda ist eindeutig gescheitert.

Die sogenannten Reformen der Hartz-Kommission und der Agenda 2010 sollten auf eine Veränderung dieses Entwicklungstrends abzielen. Zur Überwindung dieser Tendenz zur Stagnation in Deutschland hat sich die Sozialdemokratie die Interessen des Kapitals mehr und mehr zu eigen gemacht . Das Markenzeichen „Neue Mitte“ stand Pate für diese Modernisierung der Politik: Im Blair-Schröder-Papier (1999) heißt es: „In der Vergangenheit haben Sozialdemokraten oft den Eindruck erweckt, Wachstum und eine hohe Beschäftigungsquote ließen sich durch eine erfolgreiche Steuerung der Nachfrage allein erreichen. Moderne Sozialdemokraten erkennen an, dass eine angebotsorientierte Politik eine zentrale und komplementäre Rolle zu spielen hat.“

Die Umschichtung in den Verteilungsverhältnissen war beträchtlich. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen und Sozialhilfe hat im laufenden Jahr die Aufwendungen für die Massenarbeitslosigkeit um rund 1 Milliarde €uro verbilligt; die Verteilungswirkungen dieses Systemwechsel sind – von den massiven Persönlichkeitsverletzungen abgesehen –heute nicht annährend zu schätzen.

· Das Rentenniveau wird für künftige Bezieher deutlich abgesenkt; ohne die Sicherungsklausel wären selbst die aktuellen Renten gekürzt worden. Und der sozialdemokratische Wirtschaftsexperte Rürup profiliert sich nicht nur beständig mit dem Vorschlag der Erhöhung des Renteneintrittsalter, sondern auch mit der Forderung diese Sicherungsklausel zu kassieren und die laufenden Renten zu kürzen.

· Über die Effekte der Modernisierung im Gesundheitsbereich sagt Bundeskanzler Schröder selbst: Die Unternehmen haben allein im Gesundheitsbereich fast 10 Milliarden Euro an potenziellen Lohnzusatzkosten einsparen können. Das führt zu verbesserter Wettbewerbsfähigkeit - auch und gerade der mittelständischen - Unternehmen,.

Müntefering, Schröder und Co machen die „Raffke-Mentalität“ von Teilen des Unternehmens für den totalen Fehlschlag verantwortlich: Das beständige in neuen Formen aufgelegte Lamento: die rotgrüne Politik habe einen vorzüglichen Rahmen für die Unternehmer oder das Kapital geschaffen; dennoch werden immer neue Forderungen in Sachen Steuersenkung, Kündigungsschutz und Kürzung von Sozialleistungen erhoben. Das ständige Gerede von der Verlagerung von Betriebsstätten und Arbeitsplätzen müsse aufhören und in Deutschland investiert werden.

 
Neudefinition von sozialer Gerechtigkeit:
Gerechte Ungleichheiten?

In diese Zusammenhänge ordnen wir die Kritik von Müntefering an den “Auswüchsen„ des modernen Kapitalismus ein. Das Gespenst der Linkswende der SPD lebt von dem Scheitern der Politik der Neuen Mitte; die Kapitalismuskritik stellt einen Motivation für die sozialdemokratische Linke dar und insofern kann die politische Debatte die neue Motivation der sozialdemokratischen Mitgliedschaft auslösen. Die öffentliche Aufregung hat verdeutlicht: Kritik am Shareholder value Prinzip wird von der deutlichen Mehrheit der Bevölkerung geteilt. Zwei Drittel der Deutschen (66 Prozent) so eine Umfrage – halten die Kritik des SPD-Vorsitzenden Müntefering an der »Macht des Kapitals« sowie der einseitigen Orientierung der Wirtschaft an ihren Gewinnen zu Lasten von Arbeitsplätzen für berechtigt.

Eine deutliche Mehrheit von knapp drei Vierteln der Deutschen (73 Prozent) denkt, dass es der SPD mit der Kapitalismuskritik nicht darum geht, eine Debatte über Fehlentwicklungen in der deutschen Wirtschaft anzustoßen. Es gehe stattdessen eher darum, die Wahlchancen bei der bevorstehenden Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu verbessern. Den Erfolg damit schätzen die meisten jedoch gering ein: Über zwei Drittel der Bundesbürger (68 Prozent) glauben nicht, dass die Unternehmensschelte dazu beiträgt, die Wahlchancen der Sozialdemokraten in Nordrhein- Westfalen zu verbessern. Nur 28 Prozent glauben daran.

Und warum wird die Mehrheit der Bevölkerung nicht auf die Argumentation einer “ Linkswendung der SPD“ hereinfallen ? Über die Hälfte der Befragten (56 Prozent) geht davon aus , dass die Kritik der SPD an der Wirtschaft unglaubwürdig ist. Eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger hat begriffen, dass die Gesetze der Agenda 2010 nicht der „Zähmung des Kapitalismus“ dienen. Tatsächlich haben sie dem Kapital zu einem Übergewicht verholfen und somit das Shareholder Value Prinzip in Deutschland und Europa hegemoniefähig gemacht. Die bittere Konsequenz: die fortschreitende Zerstörung des europäischen Sozialmodells.

Der Kritik an den “Auswüchsen“ des Kapitalismus und der „schlechten Moral bei manchen Unternehmern“ hält der Hohepriester der Neoliberalismus, Hans - Werner Sinn kühl dagegen, Wirtschaft sei keine ethische Veranstaltung. „Wer sich ihr mit moralischen Ansprüchen nähert, hat die Funktionsweise der Marktwirtschaft nicht verstanden“. Zwar schaffe sie enorme Ungleichheit und sei ungerecht. Wenn man die Ungleichheit akzeptiere, erzeuge sie hohe Einkommen, gerade auch für die Arbeiter.

Mit diesem neoliberalen Credo hat Sinn die entscheidende Schwachstelle der SPD-Politik benannt. „Entfesselter Kapitalismus“ und „Soziale Gerechtigkeit“ gehen nicht zusammen. Die politische Logik der modernen Sozialdemokraten basiert deshalb darauf, dass im Zeitalter der Globalisierung soziale Gerechtigkeit nicht mehr auf die früher mögliche Weise verwirklicht werden kann und dass daher eine Umdefinition von sozialer Gerechtigkeit unvermeidbar sei. Moderne soziale Marktwirtschaften könnten die Chancen auf soziale Gleichheit  erhöhen, ohne jedoch Gleichheit im Ergebnis zu sichern oder zu versprechen. Neujustierung des Sozialstaates heißt daher auch die bisherigen Errungenschaften zur Disposition zustellen, wenn sie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit im Wege stehen.

Das entscheidende Stichwort, mit dem dieser Widerspruch zwischen Fesselung des Kapitals und internationale Wettbewerbsfähigkeit aufgelöst werden soll, heißt für die SPD „Gerechte Ungleichheiten“. Die Sozialdemokratie fragt sich, „wie viel Ungleichheit eine dynamische Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung um ihrer Leistungsfähigkeit zulassen sollte.“ In der laufenden Debatte über die Deregulierung und den neoliberalen Rückbau des Sozialstaates dominiere ein charakteristisches Missverständnis: es gehe beim Sozialstaat um die Herstellung von sozialer Gleichheit . Gerechtigkeit – so die europäische Sozialdemokratie – hieß angeblich lange Zeit Gleichheit der Ergebnisse und nicht Gleichheit der Chancen. „Gerechtigkeit, das bedeutete früher zuerst und vor allem mehr Gleichheit, und zwar ganz direkt mehr Verteilungs- und Ergebnisgleichheit.“(Clement )

Wir sagen, die Hauptaufgabe des Sozialstaates und sein größter Erfolg  bestehen darin, die soziale Unsicherheit in den Griff bekommen zu haben, die sozialen Risiken effizient reduziert und breiten Bevölkerungsschichten soziale Sicherheit verschafft zu haben, was die Voraussetzung für Individualitätsentwicklung ist. Demgegenüber hat die Sozialdemokratie die neoliberale Grundphilosophie übernommen , die soziale Sicherung sei zu üppig. Es gelte, die Menschen aus Versorgungsabhängigkeit zu befreien.

Gegen die Rückkehr von Arbeitslosigkeit und Armut hat dieses neoliberale Grundrezept nicht geholfen. Mehr noch: die Demokratie wird beschädigt. Wer den Sozialstaat abschaffen will, zerstört auch die Demokratie. Die SPD mag diese Widersprüchlichkeit in ihrem neuen Grundsatzprogramm mit der Formel  “Gerechte Ungleichheiten“ überbrücken. Scheitern wird sie im Alltagsleben mit dem Versuch der Umsetzung dieses Programms. Noch hoffen viele , dass eine Niederlage von rotgrün in Nordrhein-Westfalen einen programmatischen Neubeginn ermöglichen würde. Ein programmatischer Kurswechsel ist mit der modernen Sozialdemokratie aber nicht zu machen. Denn „präzise Fluchtpunkte einer sozialen Demokratie zeigen die Sozialdemokraten seit Jahren nicht mehr auf. Mehr noch, sie haben gar nicht die soziale und moralische Kraft für einen energischen Antikapitalismus.“(Walter) .


Haben zwei Linksparteien eine Chance ?

Vor diesem Hintergrund ist in den letzten Wochen verstärkt über die Perspektiven der politischen Formationen diskutiert worden, die sich als linke Alternative zu den neoliberalen politischen Parteien dieses Landes aufstellen. So schlug der frühere Wahlkampfleiter der PDS, André Brie vor, die neue Linkspartei WASG solle nicht zur Bundestagswahl antreten, sondern in Form einzelner Personen auf der Offenen Liste der PDS kandidieren.

Der politischen Kernüberlegung von Brie dürften viele zustimmen können: „In Deutschland und in den meisten EU-Staaten wird derzeit mit dem stereotypen Argument, man wolle den Sozialstaat erneuern, derselbe zertrümmert. Die Agenda 2010 und besonders die Hartz-Gesetze führen den von Union und FDP vorbereiteten Systemwechsel herbei, beseitigen die noch vorhandenen Hindernisse für dessen Vollendung durch die nächste, höchstwahrscheinlich schwarz-gelbe Bundesregierung. Geschwächt werden dadurch alle in Frage kommenden Gegenmächte - die Demokratie, die emanzipatorischen und sozialen Ressourcen des Staates und die Gewerkschaften. Es geht nicht mehr primär um fünf Prozent, es geht nicht um eine oder zwei hübsche, alte oder neue linke Minderheitsparteien in einer gesellschaftlichen Nische. Es geht um den Beginn des Kampfes für einen grundlegenden politischen Richtungswechsel.“

Bei der Frage einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem historischen Block des Neoliberalismus ist allerdings zu bedenken: Eine breite Unzufriedenheit geht in der Bundesrepublik Deutschland mit Resignation, Passivität und dem Fehlen von Wechsel- und Aufbruchstimmung einher.“ (Brie im FREITAG 15)

In einer Antwort auf André Brie unterstreicht im „FREITAG 16“ der Autor Michael Jäger:: „ Auch wenn die WASG nicht kandidiert, kann die PDS 2006 wieder an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Eine Offene Liste , auf der auch Einzelpersonen der WASG stünden, würde die Wahlchancen der PDS um keinen Deut erhöhen. Die PDS ist eine Partei aus dem Osten und hat als solche im Westen fast gar keine Chance. Man kann das bedauern, es ist aber eine Tatsache...Die Gründung der WASG ist ein strategischer Fortschritt, weil sie eine Westpartei ist. Eben deshalb hat sie die Chance, jene 90 Prozent des linken Wählerpotenzials in Westdeutschland auszuschöpfen, die der PDS unerreichbar sind. Deshalb müssen WASG und PDS unabhängig voneinander möglichst viele Stimmen auf sich vereinigen, im günstigsten Fall jede mehr als fünf Prozent.“

Die PDS ist bei den Bundestagswahlen 2002 gescheitert; das hat Gründe in Ihrer Politik und Strategie.  Was Nordrhein-Westfalen angeht, so erreichte dort die PDS bei der letzten Landtagswahl am 14.5.2000 1,1 % der abgegebenen Stimmen (knapp 80.000 Wählerinnen und Wähler) und auch bei der Bundestagswahl 2002 lediglich 1,2 %, wo sie bereits 1998 lag. Erklärtermaßen will die PDS keinen entschiedenen Politikwechsel in NRW, sondern sie sieht die Wahlbeteiligung lediglich als Zwischenetappe für den angestrebten Widereinzug in den Bundestag.

Im Westen ist also die PDS seit der Wende nie zu einer wesentlichen politischen Kraft geworden. Die PDS erklärt immer die Linke im Westen und die störrischen Wähler zum Problem (antikommunistische Einstellungen etc)., sie hat bislang keinen selbstkritischen Ansatz für das Scheitern ihrer Westausweitung erkennen lassen.

Es gibt auf einigen Feldern Übereinstimmung zwischen WASG und PDS.: Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, Wiedererhebung der Vermögenssteuer, keine Studiengebühren, für das Prinzip Bürgerversicherung von allen für Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung.

Es gibt aber auch Unterschiede. Die PDS geht in wichtigen Punkten auf Distanz zu Forderungen von Gewerkschaften und globalisierungskritischen Organisationen. In Berlin hat die PDS zusammen mit der SPD wegen der bekannten Haushaltsnöte die Tarifabkommen im öffentlichen Dienst gekündigt, was letztlich zum Ausscheiden der Tarifgemeinschaft der Länder (TLD) aus der Tarifgemeinschaft von Bund, Länder und Kommunen führte.

Dieser Widerspruch zwischen programmatischen Forderungen nach Arbeitszeitverkürzungen, existenzsichernden Einkommen, Ausweitung der öffentlichen Investitionen und der Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor mit der praktischen Politik ist charakteristisch für die PDS. Die PDS ist für eine Alternative gegen den Neoliberalismus, hält aber in Regierungskoalitionen (Mecklenburg-Vorpommern, Berlin) die „Politik des kleineren Übels“ als Zwischenlösung für praktikabel.

Die PDS will sich weitergehender Forderungen  - wie solidarische Einfachsteuer, Bürgerversicherung,  - von Gewerkschaften, Sozialverbänden und Attac nicht zu eigen machen. Auch in der Frage der Ablehnung der EU-Verfassung ist die Haltung der PDS nicht eindeutig; die Mehrheit ihrer Abgeordneten lehnt den Verfassungsentwurf ab und beteiligt sich an dem europäischen Widerstand gegen die EU-Konvention, die Lissabon-Strategie der EU-Kommission und gegen die Dienstleistungsrichtlinie.

Die Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit tritt für einen grundlegenden Politikwechsel ein. Wir wollen zusammen mit Gewerkschaften, Sozialverbänden und globalisierungskritischen Organisationen eine andere Politik durchsetzen, die mit dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit ernst macht, den Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme auf das Niveau des 21. Jahrhunderts bringt und die soziale Gerechtigkeit im Lande wiederherstellt. Wenn dies keine Worthülse bleibt und praktisch gelingt, besteht die Chance einer wachsenden Aufmerksamkeit und Akzeptanz auch bei anderen kritischen Bürgern in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft.

Dann kann die Kandidatur der WASG zu den Bundestagswahlen 2006 der Beginn sein das gesellschaftliche Kräfteverhältnis ein wenig zuungunsten des Neoliberalismus zu verschieben. Unter dieser Zielsetzung ist es geboten, mögliche Formen der Zusammenarbeit mit der PDS nicht rundheraus abzulehnen, sondern in aller Öffentlichkeit zu debattieren. Der Ausgang der Wahlen in NRW wird zeigen, ob das möglich ist.

Joachim Bischoff
Björn Radke

30. April 200

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