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Die globale US-Strategie und die Kriege in Nahost

Von Hüseyin Aydin

„So etwas wie die Vereinten Nationen gibt es nicht… Das Gebäude des UN-Hauptquartiers in New York zählt 38 Stockwerke. Wenn es davon zehn verlöre, würde das nicht den geringsten Unterschied ausmachen.“
Diese Worte entstammen nicht einem islamistischen Flugblatt, sondern einer Rede John Boltons im Jahr 1994. Elf Jahre später, im März 2005, wurde Bolton von Präsident George Bush zum Botschafter der USA bei den Vereinten Nationen gemacht.

Keine Personalie könnte besser das dominierende Thema der Weltpolitik der letzten fünf Jahre veranschaulichen. John Bolton verkörpert das, was die Experten „US-Unilateralismus“ nennen. In der zitierten Rede erklärte Bolton, was für ihn „US-Unilateralismus“ praktisch bedeutet: „Es gibt eine internationale Gemeinschaft, die von der einzig verbliebenen wirklichen Großmacht der Welt – den USA – geführt werden kann, wenn es unseren Interessen entspricht und wenn wir andere dazu bringen können, mitzuziehen.“

Der Dauerkonflikt im Nahen Osten ist nur im Kontext der globalen Strategie der USA zu verstehen. Bolton gehört zu der Gruppe der so genannten Neokonservativen, die in den 90er Jahren für eine grundlegende Umorientierung der US-Außenpolitik argumentierten. Das neokonservative Lager formierte sich ab 1997 um das Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert – eine außenpolitische Lobby zur „Bewerbung der globalen Führungsposition Amerikas“. In einem Gutachten aus dem Jahr 2000, das von einer Kommission dieses Projektes verfasst wurde, heißt es:

„Derzeit steht den USA auf Weltmaßstab kein Rivale gegenüber. Amerikas große Strategie sollte darin bestehen, solange wie möglich diese vorteilhafte Position zu bewahren und auszubauen. Es gibt jedoch potenziell mächtige Staaten, die mit der gegenwärtigen Situation unzufrieden sind… Bis jetzt wurden sie von den Kapazitäten und der globalen Präsenz der US-Militärmacht abgeschreckt. Doch mit dem relativen und absoluten Niedergang dieser Macht werden die günstigen Bedingungen, die sie mit sich bringt, unweigerlich untergraben.“

China und der Wettlauf um Rohstoffe

Die gesamte US-Außenpolitik ist seit Ende des Kalten Krieges zunehmend von der Furcht befallen, eine neue Hegemonialmacht könne die eurasische Landmasse dominieren, und damit die einzigartige Stellung der USA gefährden. Als potenziell gefährlichster Rivale auf globalem Maßstab wird in diesem Zusammenhang China ausgemacht.

Das ostasiatische Land wächst seit nun zwei Jahrzehnten im atemberaubenden Tempo. Der rasante und anhaltende Wirtschaftsboom in China hat einen zweischneidigen Effekt. Auf der einen Seite bietet es der US-Wirtschaft, wie allen anderen großen Industrienationen, einen wachsenden Absatzmarkt und rentable Anlagechancen. Auf der anderen Seite birgt die wirtschaftliche Stärke angesichts der großen Bevölkerungszahl die Möglichkeit, so der führende amerikanische Analyst John Mearsheimer, „eine weit mächtigere Armee sowohl als Japan, als auch Russland aufzubauen. … Wenn China nur die Hälfte des japanischen Pro-Kopf-Einkommen erwirtschaften sollte, dann würde das Bruttosozialprodukt das Zweieinhalbfache dessen Amerikas betragen. Kurzum, China hat sogar das Potenzial, deutlich mächtiger als die USA zu werden.“

Der Streit im außenpolitischen Establishment dreht sich darum, wie dieser Gefahr zu begegnen sei. Im Zentrum steht die Frage nach der Herrschaft über die Energieressourcen, insbesondere das Öl. Das Kalkül ist einfach: Wer das Öl kontrolliert, kontrolliert den wichtigsten Nervenstrang der Weltwirtschaft. Zwischen den großen Nationen, insbesondere zwischen China und den USA, ist unübersehbar ein Wettlauf um Rohstoffe entbrannt.

Daher nimmt der Nahe und Mittlere Osten eine so zentrale Rolle in der US-Außenpolitik ein. Die neokonservative Lobby für das „neue amerikanische Jahrhundert“ kam in den 90er Jahren zunehmend zur Auffassung, dass die überwältigende militärische Übermacht der USA endlich dazu genutzt werden sollte, um das Kräftegleichgewicht im Mittleren Osten nachhaltig zu den eigenen Gunsten zu verschieben. Ihnen geht darum, 1.) das Öl dem amerikanischen Zugang zu sichern; 2.) die Chinesen herauszuhalten; und 3.) den Europäern zu zeigen, dass ihre Energiesicherheit von der Macht der US-Armee abhängig ist.

Ein Kernpunkt der von den Neokonservativen befürworteten Umorientierung der US-Politik im Nahen und Mittleren Osten bestand darin, Israel weit größeren Spielraum gegenüber seinen arabischen Nachbarn einzuräumen. Diesbezüglich ist denn auch tatsächlich ein sichtbarer Wandel eingetreten. Unter Präsident Bush senior hielten die USA zu Beginn der 90er Jahre noch einen 10 Milliarden Dollar-Kredit zurück, um den damaligen israelischen Premierminister Schamir zur Teilnahme an den Friedensverhandlungen mit der PLO in Madrid zu zwingen. Demgegenüber hat Präsident Bush junior kein Problem damit, wenn die israelische Armee unter dem heutigen Ministerpräsidenten Olmert die halbe palästinensische Regierung verschleppt.

Zum anderen wandte sich die neokonservative Lobby gegen das Herzstück der Politik im Mittleren Osten unter dem damaligen demokratischen Präsidenten Clinton, die so genannte „doppelte Eindämmung“ des Irak und des Iran. Dessen Strategie sah die politische Isolierung des Iran vor, während der Irak wirtschaftlich durch ein von den UN gestütztes Embargo ausgeblutet wurde. Das Problem bestand darin, dass Rivalen wie Russland oder Deutschland begannen, aus eigenen kommerziellen Interessen diese Eindämmungspolitik zu unterlaufen.

In einem Brief vom Januar 1998 schrieben achtzehn Neokonservative an Präsident Clinton, darunter Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz, Richard Perle, William Kristol und John Bolton: „Die amerikanische Politik gegenüber dem Irak ist nicht erfolgreich.“ Clinton möge die damals bevorstehende Rede zur Lage der Nation nutzen, um „die Beseitigung des Regime Saddam Husseins von der Macht“ anzukündigen, denn die militärische Aufrüstung des Saddam-Regimes mit Massenvernichtungswaffen würde „einen bedeutsamen Teil der Weltölvorräte gefährden“. Die USA müssten dabei unilateral, auf eigene Faust handeln: „Wir können uns nicht länger auf unsere Partner der Golfkriegskoalition [der Jahre 1990/91] verlassen… die amerikanische Politik darf sich nicht weiter durch ein fehlgeleitetes Beharren auf die Einstimmigkeit im UN-Sicherheitsrat verkrüppeln lassen.“

Der Irakkrieg und der „neue Mittlere Osten“

Elf der neokonservativen Unterzeichner des Briefes an Präsident Clinton sollten in der seit Januar 2001 amtierenden Regierung Bush führende Positionen einnehmen. Und so liest sich der Brief rückblickend auch wie eine Blaupause für den Angriff des Jahres 2003 auf den Irak und die folgende Besetzung des Landes durch eine von den USA geführte „Koalition der Willigen“.

Die Rechtfertigungsmuster für diesen Feldzug, der wahrscheinlich über 100.000 Menschen das Leben kostete, erwiesen sich rasch als reine Konstruktionen. Weder verfügte der Irak über Massenvernichtungswaffen, noch über eine Verbindung zu den Attentätern, die am 11. September 2001 das Pentagon und das World Trade Center angriffen.

Darum ging es auch nicht. Es ging und geht, in den Worten der heutigen US-Außenministerin Condoleeza Rice, um einen „neuen Mittleren Osten“. Der 11. September gab der US-Außenpolitik die einmalige Gelegenheit, diese bereits durch die Neokonservativen seit Ende der 90er Jahre projektierte Umgestaltung der politischen Landkarte der Region im Interesse der USA als einen umfassenden „Krieg gegen den Terror“ zu deklarieren. Der Krieg gegen Afghanistan 2001 war der erste Testlauf dieser Strategie. Die amerikanische Führung, berauscht vom raschen Sieg über das schwache Taliban-Regime, demonstrierte der Weltöffentlichkeit nun nahezu ungeschminkt, worauf die Strategie des Projektes für das neue amerikanische Jahrhundert hinausläuft.

Ein Teil der Gefangenen des Afghanistan-Feldzuges wurde nach Guantanamo verschleppt und dort demonstrativ in geknebeltem und erniedrigtem Zustand abgelichtet. Es sind die offiziellen Bilder der US-Armee aus jener Zeit, die bis heute in der Tagesschau Nachrichten aus Guantanamo illustrieren.

Unter dem Titel National Security Strategy gab das Weiße Haus im September 2002 ein Grundsatzpapier heraus, das für alle im Internet zugänglich ist. Darin heißt es:

„Die Vereinigten Staaten verfügen über Stärke und Einfluss in einem nie da gewesenen und in einem jede andere Macht in der Welt übertreffenden Maße. … Unsere Streitkräfte werden sich als stark genug erweisen, mögliche Gegner von einer Aufrüstungspolitik abzuhalten, die mit dem Streben nach Überholen oder Gleichziehen mit der Macht der Vereinigten Staaten verknüpft ist. … Bei der Ausübung unseres Führungsanspruches werden wir die Werte, Urteile und Interessen unserer Freunde und Partner respektieren. Indes sind wir darauf vorbereitet, alleine zu agieren, wenn es unsere Interessen und einzigartige Verantwortung erfordern.“

Gegenüber den als Schurkenstaaten oder Terroristen definierten Gegnern wird letzteres noch einmal unterstrichen: „Auch wenn die Vereinigten Staaten sich um die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft fortwährend bemühen, werden wir nicht zögern, gegebenenfalls auf eigene Faust zu handeln und unser Recht auf Selbstverteidigung durch präventive Maßnahmen gegen solche Terroristen auszuüben…“

Wir haben es heute mit einer Strategie der USA zu tun, die ihre überwältigende militärstrategische Übermacht nutzen will, um mittels einer Reihe von „präventiven“ Feldzügen – das heißt: Angriffskriegen – die Landkarte des Mittleren Ostens zu verändern. Der Irakkrieg sollte nur die erste Etappe im Kampf gegen die von Bush als „Achse des Bösen“ bezeichneten Angriffsziele sein.

Bei der Durchsetzung ihrer globalen Ziele stößt die US-Armee allerdings auf Grenzen, die sich aus dem Umfang der Operationen ergeben. 1991 griff eine multilaterale Allianz unter UN-Fahne den Irak mit einer halben Million Soldaten an. Sie blieb auf halber Strecke stehen und ließ so ein schwaches, aber brutales Saddam-Regime an der Macht. 2003 wollten die USA und ihre Verbündeten mit nicht mehr als 130.000 Soldaten nicht nur die irakische Armee besiegen, sondern auch eine stabiles Besatzungsregime herstellen. Dahinter steckte die neokonservative Idee, die extreme militärtechnische Überlegenheit zu nutzen, um mit verhältnismäßig geringen Kräften von einem Land zum nächsten zu springen und US-freundliche Regime zu hinterlassen. In der Zwischenzeit würde die Übernahme der Öl-Förderung neue Einnahmequellen erschließen und einen Teil der Kosten amortisieren.

Diese Strategie hat indes einen entscheidenden Haken: Die US-Militärmacht konnte in nur drei Wochen den Krieg gegen die reguläre Armee einer unbeliebten, international isolierten Diktatur zu gewinnen. Aber die Etablierung eines stabilen Besatzungsregimes erwies sich als wesentlich schwieriger. Drei Jahre nach dem von Bush deklarierten „Sieg“ steckt die US-Armee immer noch in einem Guerillakrieg gegen den irakischen Widerstand fest. Die Zahl der getöteten US-Soldaten überschreitet die Marke von 2000.

US-Konzerne erhielten zwar den Zugriff auf die vormals staatliche Ölindustrie. Doch der Krieg verunmöglicht die Steigerung der Förderleistung: Der Ölpreis stieg infolge des US-Sieges, anstatt zu sinken.

Drohender Angriff auf den Iran

Der Traum der Neokonservativen von einem Krieg zum Selbstkostenpreis ist gescheitert. Bis zum Ende des Jahres 2007 könnte sich die Besatzung des Irak nach Berechnungen des ehemaligen Regierungsberaters für den Mittleren Osten, Anthony Cordesman, auf Kosten von insgesamt 308 Milliarden US-Dollar belaufen.

Heute stehen die USA vor zwei gleichermaßen unattraktiven Alternativen: Entweder einen demütigenden Rückzug antreten, oder aber auf Dauer in einem Bürgerkrieg mit unkalkulierbaren politischen und wirtschaftlichen Kosten zu versinken.

Derzeit zeichnen sich zwei mögliche Reaktionen der USA auf dieses Dilemma ab. Zum einen kann sie versuchen, die „ethnische“ Karte zu spielen, und einen ungewinnbaren Krieg im Irak in einen chaotischen und blutigen Bürgerkrieg zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden umzuwandeln. Ein solcher Bürgerkrieg würde den irakischen Widerstand gegen die USA paralysieren. Eine daraus folgende Teilung des Irak würde zwar unkalkulierbare Konsequenzen haben, aber den USA möglicherweise erlauben, sich ohne Gesichtsverlust aus dem Schlamassel wieder herauszuziehen oder gar als Ordnungsmacht gegenüber schwachen und abhängigen Regimen zu fungieren.

Eine zweite Alternative besteht in der Ausweitung des Krieges nach außen. Weitere Länder könnten in der vagen Hoffnung angegriffen werden, auf diese Weise das allgemeine Kräftegleichgewicht in der Region zu den eigenen Gunsten zu verschieben. Dies war die Erfahrung in den frühen 70er Jahren, als die USA in Vietnam stecken blieben. Unter Nixon und Kissinger trug die US-Armee die Flächenbombardements nach Kambodscha, wo eine weitere Million Menschen sterben mussten.

Es ist unübersehbar, dass sich die USA die Option eines Angriffs gegen den Iran weiterhin offen halten. Selbst der Einsatz von Atomwaffen ist nicht ausgeschlossen. Verschiedene diesbezügliche Drohungen von Seiten George W. Bushs haben im Juni 14 Kongress-Abgeordnete der Demokraten dazu veranlasst, in einem öffentlichen Appell den Präsidenten zur Zurücknahme der Option eines „nuklearen Präventivschlages“ zu drängen.

Vor dem Hintergrund eines drohenden Angriffs gegen das Regime in Teheran erscheint der Krieg Israels gegen die Hisbollah in einem anderen Licht. Das iranische Regime hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass es im Fall eines US-Angriffs sowohl auf bewaffnete Anhänger unter den irakischen Schiiten, als auch auf die Hisbollah im Libanon zurückgreifen würde. Der israelische Angriff gegen den Süd-Libanon hätte aus US-Sicht im Idealfall dazu gedient, einen Teil dieser Kräfte ganz im Geiste der Neokonservativen „präventiv“ zu vernichten und so einen Angriff auf den Iran kalkulierbarer zu machen.

Zusammengefasst

Die Kriege im Mittleren Osten von Afghanistan und dem Irak stehen mit dem jüngsten Konflikt im Libanon in einem engen Zusammenhang. Sie werden verbunden durch eine Strategie des neokonservativen Flügels im US-Establishment, der unter George W. Bush die Außenpolitik der USA dominiert. Sie basiert auf dem Versuch, die überwältigende militärische Überlegenheit der USA zu nutzen, um dauerhaft den Mittleren Osten unter Kontrolle zu bringen und die dortigen Ölquellen vor den Konkurrenten abzuschirmen, bzw. diese von den USA diesbezüglich abhängig zu machen.

Ein globales Problem erfordert eine globale Antwort. Das Engagement der Linken in der deutschen wie internationalen Friedensbewegung ist kein „Luxus“ neben den innen- und sozialpolitischen Fragen, sondern ein zentraler Bestandteil unserer Politik. Es ist Aufgabe der neuen Linken, emotional zugespitzt die deutsche Bevölkerung für das Leid zu sensibilisieren, das die Kriege um das Öl über die Menschen im Nahen und Mittleren Osten bringen. Es geht darum, den politischen Widerstand zu stärken und sich an Aktivitäten wie Demonstrationen auch initiativ zu beteiligen. Es gibt ein Recht auf Widerstand gegen imperiale Politik, wobei dieses Widerstandrecht klar gegen terroristische Aktivitäten abgegrenzt werden muss. Terrorismus ist als Kampfform grundsätzlich abzulehnen, da er immer Unschuldige trifft.

Eine solche Ausrichtung unserer Politik kann auch jene Kräfte moralisch unterstützen, die in den USA gegen die Konsequenzen der imperialen Strategie der Neokonservativen kämpfen. Denn eines darf man nicht übersehen: Bush, Rice und Rumsfeld mögen sich selbst für unschlagbar halten – tatsächlich ist Unterstützung für die Besatzung des Irak heute so unpopulär wie noch nie, in der Welt ebenso, wie in den USA selbst.

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