Die Türkei: Auf dem Weg nach Europa?
von Murat Çakir Der inzwischen als wahrscheinlich angesehene EU-Beitritt der Türkei ist sicherlich eines der umstrittensten Themen in Sachen EU-Erweiterung. Es ist ein Thema, das insbesondere in Deutschland von innenpolitischen und wahltaktischen Überlegungen überlagert wird. Gerade der vor kurzem zurückgezogene Plan der CDU-Chefin Angela Merkel, eine Unterschriftenaktion gegen den EU-Beitritt der Türkei durchzuführen, hat gezeigt, wie sensibel die Frage "Türkei" ist. Allzu lange haben insbesondere die Konservativen mit der abweisenden Haltung und der Argumentation, dass der Beitritt der Türkei "problematisch, kaum durchsetzbar und von der Mehrheit der Bevölkerung nicht gewollt ist" bei dem Wahlvolk punkten wollen. Solange die Türkei ihre "Hausaufgaben" in Sachen Demokratie und Menschenrechte nicht gemacht hatte, also der eventuelle Beitritt noch in der Ferne lag, war das Schielen auf die xenophobilen Ängste der gesellschaftlichen Mitte stimmenträchtig. Kann es jetzt sein, dass ausgerechnet der islamistisch-neoliberale Premier Recep Tayyip Erdogan seinen christlichen Freunden einen Strich durch die Rechnung macht? Der türkische Premier hält nichts von der CDU-Offerte, eine "privilegierte Partnerschaft" einzugehen und pocht auf volle Mitgliedsrechte. Immerhin wird ihm von Brüssel aus bescheinigt, die Kriterien für den Beginn der Beitrittsverhandlungen erfüllt zu haben. Der "Fortschrittsbericht" von EU-Erweiterungskommissar Verheugen belegt, dass in Sachen "Türkei-Politik der EU" eine Wende schon beschlossen ist. Insofern können wir davon ausgehen, dass der EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs im Dezember 2004 einen Beschluss über den Beginn der Beitrittsverhandlungen herbeiführen wird. Warum diese Wende in der Türkei-Politik der EU? Trotz des Wahlkampfgetöses ist es auch der Union bewusst, dass ein Beitritt der Türkei für die neu definierten "Interessen Europas" ein Zugewinn ist. Es wäre keine Binsenweisheit zu behaupten, dass eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung die politische Strategie von Günter Verheugen mit aller Kraft unterstützen würde. Denn für die Interessen der werdenden Weltmacht EU hat die Türkei unverzichtbare Vorteile. Zum einen ist die geschichtliche Entwicklung der Republik Türkei sehr eng mit der europäischen Geschichte verbunden. Schon der Republikgründer Mustafa Kemal legte die strategische Route gen Europa fest. So wurde das "Erreichen eines Niveaus der europäischen Zivilisation" eine Konstante im außenpolitischen Handeln des türkischen Staates. Das war mehr als eine Propagandalosung. Deshalb wurde die Türkei 1952 Mitglied der NATO und stellte schon 1959 den Antrag auf EWG-Mitgliedschaft. Hieraus kann man ersehen, dass der Prozess der "Europäisierung der Türkei" eine 45-jährige Geschichte hat. Zum anderen hat die Türkei eine für die EU unschätzbare geostrategische Bedeutung. Als eine ausgreifende Regionalmacht im südöstlichen Vorfeld Europas verfügt sie über Einfluss über eine Gegend, die für die Interessen der EU immer wichtiger wird. Auf der einen Seite wird die Türkei zum Energieumschlagplatz, von dem aus die Gas- und Erdölreichtümer des kaspischen Beckens und des Kaukasus auf den Weltmarkt befördert werden. Gleichzeitig spielt sie eine führende Rolle bei der Aufstellung der wirtschaftlichen Kooperation der Schwarzmeer-Küstenstaaten und kaukasischen Nachbarländer. Mit dem großen Südanatolienprojekt (mehrere Staudämme und Wasserwerke auf Euphrat und Tigris) hat die Türkei ein immens wichtiges strategisches Gut. Auf der anderen Seite ist sie aber eine Militärmacht, die nach den USA und Israel größere Erfahrungen im "Warmen Krieg" nachweisen kann und Ansprüche in dem Dreieck "Naher Osten - Balkan - Kaukasus" stellt. Sie ist willens und fähig, ihre nationalen Herrschaftsansprüche gegen die Gegner im eigenen Lande und in den Nachbarstaaten durchzusetzen. Ihre militärische Gewaltmaschinerie konnte sie erfolgreich für die Konsolidierung der Staatsmacht nach innen einsetzen. Mit Militäraktionen im In-und Ausland, mit einer restriktiven und aggressiven Innenpolitik sowie glaubwürdigen Kriegsandrohungen gegen Nachbarländer konnte die Türkei die sensible "Kurdenfrage" einer genehmeren "Lösung" zuführen. Diese Vorteile machen die Türkei für die EU-Interessen unverzichtbar, aber zeigen zugleich auf den Interessenkonflikt zwischen der USA und der EU. Denn die Türkei ist ein wichtiger strategischer Partner der USA. Es besteht eine Partnerschaft, die durch die Kooperation mit Israel verstärkt ist und für die dominante Position der USA im Nahen Osten und Kaukasus eine wichtige Rolle spielt. Aus diesem Grund betont die USA stets ihre "vitalen Interessen" an der Türkei. Hier entsteht der Interessenkonflikt zwischen der USA und der EU. Denn auch die EU möchte die "türkische Macht" für ihre Interessen nutzbar machen. Hierbei soll die Türkei als Regionalmacht insbesondere eine "stabilisierende Rolle" übernehmen. Denn aus europäischer Sicht sind der Nahe Osten und der Kaukasus Orte der "Instabilität", in denen die USA und Russland größeren Einfluss geltend machen können als die EU. Deshalb tritt die EU bewusst in Konkurrenz zu den Ansprüchen der USA und Russlands und möchte mit dem Beitritt der Türkei ihren grenzüberschreitenden Einfluss ausdehnen. Der diplomatische Kampf um die Türkei Der am 6. Oktober 2004 in Brüssel veröffentlichte "Fortschrittsbericht" der Europäischen Kommission macht deutlich, dass der diplomatische Kampf um den Status der Türkei in vollem Gange ist. Aus dem Bericht ist herauszulesen, dass die EU sowohl sich als auch die Türkei für die Mitgliedschaft herrichten will. Der so genannte "Heranführungsprozess" wird dazu genutzt. Dieser soll aber gleichzeitig dazu dienen, die in den vergangenen Jahren aus innenpolitischen "Sachzwängen" heraus geförderten Ängste in der europäischen Bevölkerung abzubauen. So wird beispielsweise für den Beginn der Beitrittsverhandlungen der "Ausschluss einer Zuwanderung türkischer Arbeitskräfte in die EU" als Grundvoraussetzung gestellt. Das, was als "Beruhigung der skeptischen Teile der Bevölkerung" gedacht ist, soll auch Zeit verschaffen. Zeit, in der unter einem Damoklesschwert der "Möglichkeit, die Beitrittsverhandlungen jederzeit abbrechen zu können" die ökonomischen und politischen Anpassungseckdaten, welche die Türkei zu erfüllen hat, diktiert werden können. Doch einfach scheint es nicht zu werden. Denn die Türkei ist ein sehr selbstbewusster Beitrittskandidat. Sie weiß die Konkurrenz zwischen der USA und der EU, aber auch innerhalb der EU-Mitgliedsländer für sich auszunutzen, um ihren Status in der EU entscheidend zu verbessern. Es scheint, dass insbesondere bei dem von der Türkei gestellten Anspruch, an den Konsultations- und Entscheidungsmechanismen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) direkt beteiligt zu werden, die EU noch immer große Probleme sieht. Es ist offensichtlich, dass die Türkei nicht nur ein einfaches Mitglied werden möchte, sondern zugleich das Aufsteigen zum mit entscheidenden Subjekt der europäischen Politik beabsichtigt. Dieser Anspruch auf einen "angemessenen Status innerhalb der EU" ist der Grund für die Widersprüche innerhalb der (größeren) EU-Mitgliedsländer. Hier sollte auch die Motivation für die Haltung der Unionsparteien gesucht werden. Ob diese Widersprüche bei dem EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs ausgeräumt werden können, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Aber eins steht schon jetzt fest: am 17. Dezember 2004 wird der Beginn der Beitrittsverhandlungen offiziell beschlossen. |
Welche Türkei in welcher EU? Das ist hier die eigentliche Frage. Die Türkei hat entgegen der Aussagen in dem "Fortschrittsbericht" in Sachen Demokratisierung, Menschenrechte und sozialer Sicherheit ihre Hausaufgaben doch nicht gemacht. Die gesetzlichen Reformen, welche als "Erfüllung von Kriterien von Kopenhagen" dargestellt werden, sind rein kosmetische Korrekturen, die sich bei der Umsetzung als Farce zeigen werden. Noch immer sind Tausende von politischen Gefangenen inhaftiert, Folter ist immer noch an der Tagesordnung, und jeglicher außerparlamentarischer Widerstand wird mit polizeilichen Mitteln abgewürgt. Obwohl die Militärgerichtsbarkeit gesetzlich aufgehoben ist, wird insbesondere in den Kurdengebieten mit ähnlichen Mitteln Recht gesprochen. Auch die Fragen der sozialen Sicherungssysteme, freie Wahl von gewerkschaftlichen Interessenvertretungen in den Betrieben, das Tarifrecht u.v.m. werden weiterhin als Felder der "Nationalen Sicherheitspolitik" angesehen. In diesem Zusammenhang muss auch die türkische Verfassung betrachtet werden. Wenn die Türkei mit dieser Verfassung als Mitglied aufgenommen würde, wäre sie der erste Mitgliedsstaat, in dem eine absolute Machtkonzentration der militärischen Struktur über die Außen- und Sicherheitspolitik verfassungsrechtlich und institutionell verankert ist. Die EU-Kommission und die Vertreter des Kerneuropas scheint das nicht zu bekümmern. Denn zu keiner Zeit wurde diese Tatsache moniert. Verfassungsänderungen in Sachen Privatisierung, Liberalisierung und Grenzöffnungen werden gefordert, aber nicht die Teile der Verfassung, die den Einfluss der Armee in der türkischen Staatspolitik ermöglichen. Wenn Ausdehnungsinteressen im Vordergrund stehen, dann braucht die EU diese "stabilisierenden Regionalmachthaber". Aber schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt die Brisanz des Themas auf: Die türkische Verfassung fundamentiert das heute gültige "Nationale Sicherheitssystem" der Republik. In dem Zentrum dieses "Nationalen Sicherheitssystems" stehen der Chef des Generalstabs sowie die Organisation des Generalsekretariats des Nationalen Sicherheitsrates, der dem Generalstab unterstellt ist. Eben diese verfassungsrechtliche Struktur ermöglicht die absolute Machtkonzentration in den Händen der Militärs. Diese Machtposition geht über die Beschlüsse der Regierung in der Außen- und Sicherheitspolitik hinaus und greift in die Umsetzungsverfahren aller staatlichen Organe ein. Der Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates ist verfassungsrechtlich befugt, in alle Bereiche des politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens einzugreifen und der zivilen (!) Regierung Sanktionsmaßnahmen zu diktieren. Diese Befugnisse des Nationalen Sicherheitsrates sind durch den Artikel 118 der Verfassung festgeschrieben. Die Präzisierung erfolgte durch das Gesetz Nr. 2945 vom 9. November 1983 und hat heute noch Gültigkeit. Gemäß § 1 Abs. b des Gesetzes wird die nationale Sicherheitspolitik wie folgt definiert: "Die Nationale Sicherheitspolitik des Staates beinhaltet die Gesamtheit der durch das Kabinett im Rahmen des vom Nationalen Sicherheitsrates zu Nationaler Sicherheit und zu Erreichung von nationalen Zielen festgesetzter Meinung beschlossene Innen-, Außen- und Verteidigungspolitik." So wird bestimmt, dass jegliche Regierungen ihre Innen-, Außen- und Verteidigungspolitik im Rahmen der "von dem Nationalen Sicherheitsrat festgesetzten Meinung" zu gestalten haben. Welche Ziele diese "festgesetzte Meinung" verfolgt, wurde im November 1997 von der türkischen Generalität in einem strategischen Dokument dargestellt: "Das Ägäische Meer, Schwarzmeer und Mittelmeer haben für die Türkei lebenswichtige Bedeutung. Das Kaspische Meer, der persische Golf, das Rote Meer sowie das atlantische Umfeld von Gibraltar sind Interessengebiete der türkischen bewaffneten Kräfte." Hier werden Parallelen zu den jeweiligen Interessen der USA und der EU deutlich. Für die militärische Struktur, aber auch für die Freier der Regionalmacht ist die Beibehaltung der Entscheidungskompetenz im türkischen Staat unumgänglich. Mit den Instrumenten der Verfassung, verschiedener Gesetze und natürliche dem Argument "Nationale Sicherheit" wurde diese Entscheidungskompetenz weiter ausgebaut. Dass gerade einer offensichtlich islamistischen Regierung von der "laizistischen" Generalität kein Stein in den Weg gelegt werden, ist kein Widerspruch in sich. Alle etablierten Parteien in der Türkei, insbesondere die Partei des heutigen Regierungschefs, haben den Zustand der geteilten Entscheidungskompetenz im Staate weitgehend akzeptiert. Abgesehen davon hat die türkische Generalität mit ihrer institutionalisierten und herausragenden Stellung, zu allen Bereichen politische Positionen zu definieren und diese auch durchzusetzen, keinerlei Gründe, die von ihnen kontrollierten Islamisten öffentlich zu diskreditieren. Im Gegenteil: Premier Recep Tayyip Erdogan hat mit seiner absoluten Mehrheit im türkischen Parlament beste Voraussetzungen, die auch von den Militärs favorisierte neoliberale Wirtschaftspolitik schnell und ohne Gegenwehr umzusetzen. So gesehen kann behauptet werden, dass zwei vermeintliche Gegenpole dabei sind, die zukünftige Ausrichtung der Türkei als Regionalmacht sowohl für die USA als auch für die EU als unverzichtbar festzuschreiben. Die vermeintlichen Anforderungen in Sachen Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit für eine EU-Mitgliedschaft werden in Form von kosmetischen Operationen im Gesetzeswerk erfüllt. Für die Beruhigung der skeptischen Teile der europäischen Bevölkerungen reicht das vollkommen aus, spielt aber bei den eigentlichen Überlegungen für eine EU-Mitgliedschaft keine wesentliche Rolle. Denn auch die EU ist im Umbruch. Nicht das soziale, friedliche Europa wird ausgebaut, sondern ein Europa des Neoliberalismus und Militarismus. Mit rasanter Geschwindigkeit soll eine EU-Verfassung durchgeboxt werden, welche die neoliberale Konzeption einer Wirtschafts- und Sozialordnung zum Verfassungsrang erhebt und die Mitgliedsländer zur Aufrüstung und Teilnahme an "präventiven Kriegen" verpflichtet. Eine Türkei mit einer derartigen Verfassung kann den Weltmachtinteressen Kerneuropas nur willkommen sein. Doch es steht außer Frage, dass weder eine solche Türkei, noch eine solche EU den Interessen der europäischen Gesellschaften, zu denen die türkische Gesellschaft gehört, dienlich sein kann. Für die progressiven Kräfte müsste das Ziel die Schaffung eines friedlichen und sozialen Europas sein, in dem Strategien, die mit den USA entwickelt werden, keinen Platz haben. Bei der Frage des türkischen EU-Beitritts müssten sich deshalb alle Diskussionen an diesem Ziel orientieren. Nicht mehr, nicht weniger. Murat Çakir ist Übersetzer und lebt in Kassel.
Klicken Sie hier, um den abgedruckten Aufsatz als pdf-Datei herunterzuladen. |