Zynismus siegt?
Zur Diffamierungskampagne gegen Langzeitarbeitslose und der Inszenierung eines „Hartz IV-Finanzskandal“
Von Achim Trube
Man weiß nicht, was bedrückender ist: Wenn die Spitzenvertreter der Arbeiterwohlfahrt, der Diakonie und des Deutschen Roten Kreuzes gemeinsam mit den Präsidialen der kommunalen Dachverbände in einer so genannten „Persönlichen Erklärung“ (17.05.2006) mit Titel und Funktion die Senkung der passiven Leistungen für Arbeitslosengeld-II-Empfänger fordern, oder aber wenn Journalisten – wie Hans-Ulrich Jörges - im Stern (22/06) unter der Überschrift „Der Kommunismus siegt“ in gewohnt schlecht recherchierten Artikeln von der das Land überspülenden „Tsunami-Welle der Hartz-IV-Leistungen“ künden. Ersteres ist verlogen: Präsidenten – privat. Letzteres hat Stürmer-Qualität, wenn es zugleich noch weiter titelt: “Arbeit verhöhnt, Nichtstun belohnt.“
Ausgangspunkt der neuesten „Blame-the-victim-Kampagne“ gegen Langzeitarbeitslose ist der so genannte Hartz-IV-Finanzskandal. Mehrere Milliarden Euro – die Rede ist von ca. vier - sollen die Ausgaben nun in 2006 für Hartz IV über den Ansätzen liegen; in 2005 betrug das Defizit zwischen Soll und Ist ca. 10 Mrd. €. Dieser Finanzskandal ist politisch inszeniert, zugleich ein Mythos, aber auch Fanal. Denn:
Für die Vergangenheit (2005)
- wurden die Ausgaben für die zusammengelegte Arbeitslosen- und Sozialhilfe mit nur 26 Mrd. Euro angesetzt, obwohl 2004 schon 27,6 Mrd. Euro ausgegeben wurden;
- zugleich basierten die Schätzungen der Ausgabenentwicklung auf Daten der Sozial- und Arbeitslosenhilfe u.a. aus dem Jahr 2000, als die Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit noch deutlich moderater war;
- zu erinnern bleibt, dass die Kommunen - heute klagend - überdies z.T. über 90% ihrer bisherigen Sozialhilfeempfänger (einschließlich ihrer Koma- und Suchtpatienten) als erwerbsfähige Hilfeempfänger für das neue Arbeitslosengeld II (ALG II) anmeldeten, um Kosten auf den Bund zu überwälzen.
Die Haushaltsansätze des Jahres 2005 waren geschönt, denn Hartz IV – so hieß es damals - sollte sogar zur Finanzkonsolidierung einen Beitrag leisten!
Wenn heute vom Finanzskandal gesprochen wird (2006),
sind - neben ökonomischen - gerade auch politisch inszenierte Gründe ausschlaggebend:
- Den anzunehmenden Mehrausgaben für Hartz IV (s.o.) nach Sozialgesetzbuch II (SGB II - Grundsicherung für Arbeitssuchende) stehen durch eine äußerst restriktiv gefahrene Haushalts- und Arbeitsmarktpolitik im Sozialgesetzbuch III (SGB III - Arbeitsförderung) voraussichtlich Einsparungen von wiederum auch ca. vier Milliarden Euro gegenüber, sodass es letztlich vor allem durch Mittelkürzungen der Bundesagentur speziell für ABM und anspruchsvollere Qualifizierungen zwar zusätzliche Langzeitarbeitslosigkeit, aber auch per saldo ein fiskalisches Nullsummenspiel zum Jahresende geben wird, was den „Finanzskandal“ zum Mythos macht. Das liegt nicht zuletzt auch an dem kontinuierlichen Rückgang der Ausgaben für das beitragsfinanzierte Arbeitslosengeld I (SGB III) - z.B. um 11% zwischen Nov. 04 und April 05 -, was zudem darauf hindeutet, dass immer weniger Menschen aufgrund von kurzfristiger Beschäftigung und erhöhten Anspruchsvoraussetzungen überhaupt noch in das Versicherungssystem für Arbeitslose hineingelangen können. Inzwischen ist es so, dass von allen registrierten Arbeitslosen nur noch ca. ein Drittel Anspruch auf die Versicherungsleistungen des SGB III hat, während nunmehr schon zwei Drittel auf die Fürsorgeleistungen des SGB II angewiesen sind.
- Entscheidend für den Anstieg der Bedarfsgemeinschaften, die nach Sozialgesetzbuch II Arbeitslosengeld II oder das Sozialgeld beziehen müssen, - und dies sind tatsächlich deutlich mehr geworden (Jan. 05: 3,3, Mio. zu April 06: 3,92 Mio.) - sind vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit und fehlende Versicherungsansprüche an die Bundesagentur für Arbeit. Wenn jedoch durch die Verkürzung der Bezugsdauer für Arbeitslosengeld I von 32 auf maximal 18 Monate - so die beschlossene Gesetzeslage - , durch die Förderung von Ich-AGs , durch prekäre Mini-Beschäftigung - Herzstücke des Hartz-„Reformen“ - oder auch durch die berüchtigten Ein-Euro-Jobs nur noch geringe bzw. gar keine Versicherungsansprüche mehr entstehen, kann es nicht Wunder nehmen, dass die Ausgaben im Bereich des Sozialgesetzbuches II - also für Hartz IV - enorm ansteigen müssen, es sei denn, man erinnert sich nicht mehr an die eigene Politik von gestern und diffamiert dafür dann heute besser die Betroffenen.
- Mit der prekären Beschäftigung (400-Euro-Jobs, marginale Selbstständigkeit, Niedriglohnsektor, Praktika, Werkverträge etc.) ist ein weiterer wichtiger Grund genannt, warum Menschen Leistungen nach Hartz IV beziehen müssen: Wenn denn der Lohn zur Existenzsicherung nicht reicht, gibt es einen Rechtsanspruch auf aufstockende Leistungen, was immer schon - übrigens seit Bestehen der Sozialhilfe der frühen 60er Jahre des vorherigen Jahrhunderts - so gesetzlich geregelt war, um das sozialstaatlich garantierte Existenzminimum rechtlich zu gewährleisten. Dass dies in der Bundesrepublik inzwischen ca. eine Million Menschen betrifft, ist offensichtlich nicht der Skandal, hört man den Originalton aus dem Stern (s.o.): „Eine wahre Honigrute zum Kommunismus eröffnet die Möglichkeit, das Arbeitseinkommen auf Hartz-IV-Niveau zu heben, falls es unter der vielfach gepolsterten Stütze liegt.“ Skandalös sind augenscheinlich Working-poors, die schlicht und einfach Geld zum Leben brauchen.
Der Hartz–IV-Skandal ist ein Fanal, weil er die Deregulierung der Arbeits- und Sozialversicherungswelt vor allem für die nächsten Jahre und die weitere Zukunft deutlich macht. Je mehr Menschen durch die Fragmentierung ihres Arbeits- und Versicherungslebens an den Rand des ehedem Normalen abgedrängt sind, eignen sie sich offensichtlich zum Skandal, der von den politisch (Un-)Verantwortlichen zur Diffamierung, Exklusion und Marginalisierung genutzt und ausgebeutet wird. Zur Diffamierungsstrategie gehört die Schilderung der „Fettlebe“, die das System den Untätigen zu bieten scheint, für das selbst die Wohlfahrtspäsidenten (natürlich ganz persönlich) fordern, „… dass Anreize für Arbeit (ja welche denn dann noch? A.T.) im Mittelpunkt zu stehen haben und die Leistungen auf die tatsächlich Bedürftigen zu konzentrieren sind“ (Erklärung v. 17.5.06).
Leben im Überfluss
So muss man annehmen bzw. es wird unterstellt, dass offensichtlich nicht „so richtig“ Bedürftige zu viel an Geld erhalten. Die in der Presse hierzu ventilierten Beispielrechnungen (Stern 22/ 06, BZ v. 21.5.06, WamS 28.5.06) konstruieren in trauter Abschreibe den „2000-Euro-Fall“, den sie dem rechtschaffenen Handwerkergesellen oder allein verdienenden Bauarbeiter gegenüberstellen. Hierbei muss jedoch nun angenommen werden, damit das „skandalöse“ Feature funktioniert:
- eine vierköpfige Familie mit mindestens zwei Kindern unter 14 Jahren
- inklusive zwei arbeitslosen Erwachsenen mit keinerlei Einkommen und anrechenbarem Vermögen
- Mietzahlungen zwischen 500 und 700 Euro
- eine Baby-Erstausstattung mit Kinderwagen
- der vorherige Bezug von Arbeitslosengeld, der einen zeitlich befristeten Aufstockungsbetrag vorsieht.
Der Zynismus siegt, wenn dabei nicht erwähnt wird, dass
- die früheren Regelsätze der Sozialhilfe und des heutigen ALG II (345 €) seit weit über 10 Jahren nicht mehr angepasst worden sind
- stattdessen sogar die Leistungen für die 14-17-Jährigen mit Einführung des SGB II von 90 auf 80 % des Regelsatzes gekürzt worden sind
- zugleich größere Anschaffungen, etwa Einrichtungsgegenstände, Waschmaschine etc., jetzt von den 345 € „anzusparen“ und nicht wie früher mehr gesondert zu beantragen sind,
- der befristete Zuschlag zum ALG II (max. zwei Jahre degressiv) für vormalige Arbeitslosengeld-Bezieher aus verfassungsrechtlichen Gründen eingeführt worden ist, da auch die (langjährigen) Einzahlungen in die Sozialversicherungen unter dem Eigentumsschutz des Grundgesetzes stehen.
Bei dieserart Darstellung bzw. Weglassung geht es dann offensichtlich nicht mehr um die Schilderung von Sachverhalten, sondern um die Erzeugung von Stimmungen und Aversionen, die einen Boden für eine „Reform“ der Hartz-IV-„Reformen“ vorbereitet, der noch mehr von Exklusion und Strafe für die Bedürftigen bestimmt sein wird.
Reform der Reform
Vor diesem Hintergrund ist es dann auch kaum mehr verwunderlich, dass das neue SGB-II-Optimierungs- bzw. Fortentwicklungsgesetz fast ausschließlich auf Sanktionen (z.B. Kürzung der Unterkunftskosten), Abschreckung (z.B. Ein-Euro-Job bei Antragstellung), Zwangsadministration (z.B. Beweislastumkehr für die Betroffenen) und Ausspitzelung (z.B. Einrichtung spezieller Ermittlungsdienste) setzt, wobei kurzerhand rechts- und sozialstaatliche Grundsätze geopfert werden, was in der Tragweite den fachpolitischen Dilettantismus zur verfassungspolitischen Demontage transzendiert. Nicht, dass es bei der Reform um die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit z.B. durch eine konzertierte Struktur- und Beschäftigungspolitik ginge; nein, es geht um die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosen selbst, denen nunmehr bei „Fehlverhalten“ die Leistungen auch für die Unterkunft gestrichen werden können, sodass administrativ Obdachlosigkeit erzeugt, statt sozialstaatlich bekämpft bzw. präventiv vermieden wird. Bei der Reform geht es auch schon überhaupt nicht darum, jenen, die vom Arbeitsmarkt auf Sicht irreversibel ausgeschlossen sind, eine menschenwürdige Existenzsicherung durch armutsfeste Transferleistungen zu garantieren; nein, stattdessen wird der Bedürftige zum prinzipiell Verdächtigen, der beispielsweise seine „Unschuld“, dass er etwa nicht in einer eheähnlichen oder auch schwulen Lebensgemeinschaft wohnt, der Behörde glaubhaft nachzuweisen hat, die anderes annimmt und dies „von Amts wegen“ - trotz zusätzlicher Ermittlungsdienste - dann nicht mehr verifizieren muss.
Im Resumee zeichnet sich etwas ab, das zwar aus anderen Zusammenhängen bekannt, aber auch gerade deswegen nicht weniger bedrückend ist: Der Umgang mit Minderheiten bzw. sozial stigmatisierten Gruppen betrifft nicht nur diese exklusiv, sondern verändert das Gesicht der gesamten Republik, die Züge ihrer verlässlichen Verfasstheit zugunsten von Grimassen stimmungsopportuner Willkür wechselt und damit mehr und mehr von ihrem rechts- und sozialpolitischen Profil verliert.
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