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Länger arbeiten?


von Joachim Bischoff und Richard Detje

Bundesfinanzminister Eichel hat eine allgemeine Debatte über Arbeitszeitverlängerung losgetreten. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Haushaltsdefizits und prognostizierter Steuerrückgänge für das laufende und kommende Jahr hatte der Bundesfinanzminister weitere Kürzungen von Finanzmitteln, eine Nullrunde 2005 für den öffentlichen Dienst und die Streichung des Nationalfeiertages angekündigt. Letzteres stieß auf breiten Widerstand - während sich in der medialen Öffentlichkeit kaum jemand über die Nullrunde für Arbeiter, Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes aufregte.

Stattdessen brach eine Flut von Vorschlägen zur Verlängerung der Wochen- und Jahresarbeitszeiten auf die Öffentlichkeit herein. Als Ersatz für den 3. Oktober wurde der 1. Mai ins Spiel gebracht, die Unternehmerverbände plädieren flugs für die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche und die Kürzung des Jahresurlaubs, Bundestagspräsident Thierse für Arbeitszeiten auf Ost-Niveau.

Die Suche nach Dammbruchstellen für Arbeitszeitverlängerung hat eine Vorgeschichte: Im Juli 2004 gab die IG Metall einer tarifpolitischen Erpressung bei Siemens nach. Um die Standorte der Mobiltelefonproduktion in Kamp-Lintfort und Bocholt mittelfristig zu sichern, wurde der Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich sowie der Umwandlung des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes in ertragsabhängige Jahressonderzahlungen für 4.000 Beschäftigte zustimmt. Verhandelt wurde auf der Grundlage des jüngsten Metall-Tarifabschlusses, der längere Arbeitszeiten ohne oder nur mit Teillohnausgleich zur Verbesserung der "Wettbewerbs-" und "Innovationsfähigkeit" sowie der Sicherung der Beschäftigung ermöglicht. Schon im Frühjahr wurde befürchtet, dass in Anlehnung an diese Vereinbarung eine allgemeine Tendenz der Arbeitszeitverlängerung sich schrittweise Bahn brechen könnte.

Damals war die IG Metall öffentlich um Schadensbegrenzung bemüht: Siemens sei ein Einzelfall, der als "Blaupause" nicht tauge. Allerdings räumte schon im Sommer der IG Metall-Vorsitzende Jürgen Peters ein: "Jeder möchte das jetzt auch haben". Am Ende des Jahres sehen wir, dass es viele auch erhalten. Der Damm war nach Abschlüssen von DaimlerChrysler, Karstadt, VW nicht mehr zu halten: Arbeitszeitverlängerung erscheint als optimales Kostensenkungsinstrument im Standortpoker.

Diejenigen, die lautstark die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche fordern, wissen, dass es sie bereits gibt. Die realen Arbeitszeiten der Vollzeit-Beschäftigten lagen im Branchendurchschnitt bereits im Jahre 2002 bei 39,9 Wochen-Stunden. Der Unterschied ist nur: Heute muss ein Teil dieser Mehrarbeit mit Überstundenzuschlägen bezahlt werden. Unbezahlte Mehrarbeit ist das Ziel, und zwar flexibel auch über 40 Stunden hinaus.

Besonders absurd ist die Durchsetzung von unbezahlter Mehrarbeit dort, wo mit Hilfe von Arbeitszeitverkürzung in der Vergangenheit Arbeitsplätze gesichert wurden. Bei Volkswagen z.B. wurde durch die Einführung der 28,8-Stunden-Woche verhindert, dass 30.000 Beschäftigte den Marsch zum Arbeitsamt antreten mussten. Nun wurde tarifvertraglich festgelegt, dass Mehrarbeit nicht mehr ab der 35., sondern erst ab der 40. Wochenstunde bezahlt werden muss. Auf diesem Weg wird auch gleich noch der tarifpolitische Fortschritt der 1980er Jahre erledigt.

Nachdem die Kathedralen der deutschen Industrie auf Mehrarbeit getrimmt sind, ist der öffentliche Dienst an der Reihe. Flächendeckend wurden die Arbeitszeiten der Beamten angehoben, dann die Tarifverträge für Arbeiter und Angestellte gekündigt. Ziel der Operation: Einführung der 42-Stunden-Woche und weitreichende Flexibilisierung. Begründet wird das mit den desolaten öffentlichen Finanzen. Tatsache ist jedoch, dass in den vergangenen zehn Jahren bereits rund zwei Millionen Arbeitsplätze abgebaut und die Arbeitsintensität für die Beschäftigten enorm gesteigert wurde. Eine 42-Stunden-Woche würde sich als nachhaltiges Arbeitsplatzvernichtungsprogramm erweisen.

In sonst seltener Klarheit wird in der Arbeitszeitdebatte der ökonomische Analphabetismus in dieser Republik deutlich. Während im öffentlichen Dienst explizit mit dem Abbau von Arbeitsplätzen durch Arbeitszeitverlängerung geworben wird, um Haushaltslöcher zu stopfen, soll die gleiche Maßnahme in der Industrie positive Beschäftigungseffekte zeitigen. "Wir müssen bereit sein, ein Stück mehr zu arbeiten, dann sind wir noch wettbewerbsfähiger," lautet das Argument. Aber nicht die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf den Weltmärkten ist bekanntlich das Problem der bundesdeutschen Wirtschaft. Die Behauptung, durch Preissenkungen auf den internationalen Märkten den Marktanteil ausweiten zu wollen, damit höhere Investitionen und eine Ausweitung der Produktion einzuleiten, gehört in das Reich der Mythologie des Kapitals.

Noch absurder ist die Vorstellung, durch Streichung von Feiertagen dauerhaft zusätzliches Wachstum erzeugen zu können, das wiederum durch Steuermehreinnahmen zur Sanierung der öffentlichen Haushalte beiträgt. Gäbe es einen solchen Zusammenhang, müsste Stoibers Bayern Schlusslicht im bundesdeutschen Wachstums-Benchmarking sein. Wer meint, durch zusätzliche Arbeitstage einen höheren Wachstumspfad erklimmen zu können, muss die Vorstellung haben, langjährige Stagnation sei Folge arbeitszeitpolitischer Restriktionen. Das ist absurd.

Tatsache ist, dass kein Land in Europa derart flexible Arbeitszeitsysteme hat wie Deutschland. Das garantiert hohe Produktivität und ist neben der permanenten Unterbietung einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik der entscheidende Faktor für die nur noch von Japan unterbotene unterdurchschnittliche Entwicklung der Lohnstückkosten, die wiederum das Fundament für die Exportoffensiven der deutschen Wirtschaft sind. Dass Unternehmen wie VW und Opel dennoch an Überkapazitäten leiden, dann ist das neben einer verfehlten Modellpolitik weder den Freizeitgelüsten noch dem reichtumspolitischen Neidkomplex der Beschäftigten anzulasten, sondern der unzureichenden Nachfrage auf den Absatzmärkten. Dort zählt nur, was zahlungsfähige Nachfrage ist - und das wiederum hat etwas mit einer stagnierenden Lohnentwicklung und unbezahlter Mehrarbeit zu tun, aber in einem negativen Zusammenhang.

Investiert wird letztlich nur dort, wo Chancen auf Ausweitung von Absatzmärkten bestehen. Diese Chancen werden seit Jahren systematisch kaputt gemacht. Für Produktion und Dienstleistungen werden heute im Vergleich zum Jahr 2000 1,5 Millionen weniger Arbeitskräfte gebraucht; deren Realeinkommen sinken in Folge von Nullrunden, Kürzungen bei übertariflichen Leistungen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Nimmt man die Absenkungen bei den Lohnersatzzahlungen (Arbeitslosengeld, Krankengeld, Renten) und die Kapitalisierung von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen hinzu, dann ist eine umfassende Beschädigung des Lebensstandards und folglich eine Stagnation der zahlungsfähigen Nachfrage die Folge.

Der Weg der unbezahlten Arbeitszeitverlängerung bei zur gleichen Zeit fortschreitenden Intensivierung der Arbeit ist nicht nur sozialer Rückschritt und politisches "Roll back". Auch unternehmenspolitisch "rechnet" sich diese standortpolitische Sackgassen-Strategie nur in der kurzen Frist. Schon mittelfristig führt der Pfad der Ausschlachtung der Lohnkonkurrenz weg von der eigentlichen strukturpolitischen Herausforderung, wie durch qualifizierte Arbeit und innovative Arbeitspolitik Beschäftigung in neuen hochproduktiven Feldern geschaffen werden kann. Der Weg der Arbeitszeitverlängerung und Lohnkürzung sichert keine Spitzenposition in der ersten Liga der hochproduktiven Hochlohnländer, sondern führt auf einen sicheren Abstiegsplatz.

(09.11.2004)

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