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Reichtum, Armut und der aktivierende Sozialstaat

Zum 2. Armuts- und Reichtumsbericht


Mit dem jetzt vorgelegten 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung behauptet die Regierung, dass sie sich nicht nur den Herausforderungen gestellt habe, sondern diese auch erfolgreich sozial gerecht gestalte. Die Fakten seien eindeutig: Deutschland sei ein reiches Land. Es gäbe aber zugleich Einkommensarmut, benachteiligte Lebenslagen und Ausgrenzungen. "Soziale Ungleichheit ist eine Tatsache, und analog zur Entwicklung am Arbeitsmarkt ist sie in manchen Bereichen in den letzten Jahren gewachsen. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung analysiert diese Umstände, gibt Erklärungen für Veränderungen und stellt die Politik und die ergriffenen Maßnahmen der Bundesregierung zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit dar." "Benachteiligte Lebenslagen und Ausgrenzung" haben zunächst viel mit Arbeitslosigkeit zu tun. Es kommen weitere Faktoren hinzu. Wer nicht von seinem Einkommen existieren kann und wer seine Arbeitskraft nicht so teuer verkaufen kann, dass er davon auf einem angemessenen sozialkulturellen Niveau existieren kann, für den bleibt der Anspruch der Teilhabe an dem sozialen Leben ein abstraktes Prinzip. Die rot-grüne Regierung beansprucht daher: "Bezugspunkt sozial gerechter Politik ist für die Bundesregierung die Schaffung sozialer und ökonomischer Teilhabe- und Verwirklichungschancen für alle Mitglieder der Gesellschaft. Denn Armut und soziale Ausgrenzung schränken die Chancen der davon Betroffenen ein, am sozialen und ökonomischen Leben ... teilzuhaben."

Man reibt sich schon die Augen, wenn die Regierung ihre Reformen der Agenda 2010 als Beitrag zur Bekämpfung von sozialer Benachteiligung und zur Ausweitung der Chancenlosigkeit präsentiert. In der Regierungspolitik seien drei Elemente verbunden worden – "die Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen, damit sie Teilhabe fördern, die Eröffnung von Teilhabe- und Verwirklichungschancen und die Absicherung der Grundbedürfnisse."

Es ist grotesk: Die Arbeitslosigkeit hat zugenommen, die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gehen deutlich zurück, während die Minijobs zunehmen; gleichermaßen wird der Bereich der Armutslöhne ausgedehnt, der Kündigungsschutz durchlöchert, die Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich erhöht, die Altersrenten gedeckelt und die Zuzahlungen zu Gesundheitsdienstleistungen und anderen öffentlichen Gütern erhöht. Die Regierungswissenschaftler bestreiten auch nicht, dass der Reichtum zugenommen und seine Verteilung zugleich deutlich ungleicher geworden ist.

Dennoch: Die Regierung behauptet, sie habe eine Stärkung des gemeinsamen Wohlstandes, des Gemeinwohls und der öffentlichen Güter betrieben.

"Der Förderung der Erwerbstätigkeit kommt eine entscheidende Bedeutung bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu." Abbau von Kündigungsschutz, Arbeitszeitverlängerungen, Minijobs etc. sind solche Förderung, denn die Wirtschaft muss "entlastet werden, um Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen zu können. Deshalb hat die Bundesregierung für den Mittelstand, der die meisten Arbeitsplätze zur Verfügung stellt, die steuerlichen Rahmenbedingungen verbessert. Gleichzeitig wurden die Sozialversicherungsbeiträge und damit die Lohnnebenkosten stabil gehalten. So werden die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft geschaffen, die Förderung von Teilhabe ermöglichen."

Die Logik dieser Argumentation besticht durch die eklatante Verfangenheit in der Ideologie des Neoliberalismus. Durch den gesamten Reichtumsbericht zieht sich die Argumentation: Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit fördern, damit Beschäftigung neu entstehen kann.

Im krassen Missverhältnis zwischen gesellschaftlicher Realität und Regierungsbewusstsein ist die Neuinterpretation von sozialer Gerechtigkeit. "Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung kann sich nicht im Ausgleich ökonomischer Ungleichheiten erschöpfen. Ein rein passiver Ausgleich sichert den materiellen Status nur vorübergehend (...) Deshalb greift ein Verständnis von Armut und Reichtum zu kurz, das sich nur auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse konzentriert."

Wie Teilhabe und Verwirklichungschancen verbessert werden können, wenn man noch nicht einmal die Regulation der sozialen Unterschiede und der gesellschaftlichen Produktion im Griff hat, bleibt ein Geheimnis. Die Behauptung, mit den Maßnahmen der Agenda 2010 seien diese Chancen erhöht worden oder würden künftig noch werden, markiert eine zynische Verkommenheit von Politik.

Wer sich von solchen ideologischen Verrenkungen nicht ablenken lässt, der kann dem Bericht aber durchaus einige empirische Entwicklungstendenzen über Armut und Reichtum in Deutschland entnehmen.


Aktuelle Konzepte sozialer Gerechtigkeit

Lange Zeit wurde soziale Gerechtigkeit vorrangig unter Einkommens- und Vermögensaspekten diskutiert. Das heutige Verständnis von sozialer Gerechtigkeit orientiert sich hingegen zunehmend daran, ob den Menschen gleiche Chancen und Möglichkeiten verschafft werden, am ökonomischen und gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich selbst zu verwirklichen. Dabei kann an eine Debatte angeknüpft werden, die schon in den 1960er und 1970er Jahren über Chancengleichheit geführt wurde.

Der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen zum Beispiel versteht unter Gerechtigkeit vor allem Verwirklichungschancen. Damit bezeichnet er die Möglichkeiten oder umfassenden Fähigkeiten (“capabilities”) von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten und das die Grundlage ihrer Selbstachtung nicht in Frage stellt.

Der amerikanische Philosoph John Rawls betont, dass Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten auch ähnliche Lebenschancen haben sollten. Damit geht er über formale Chancengleichheit im Sinne gleicher gesetzlicher Rechte hinaus. Auch andere argumentieren, dass das Streben nach sozialer Gerechtigkeit im Kontext einer globalisierten Wirtschaft vor allem bedeutet, Chancengleichheit zu gewährleisten, so etwa der Soziologe Anthony Giddens.

Die Wirtschaftswissenschaftler Richard Hauser und Irene Becker thematisieren verschiedene Aspekte sozialer Gerechtigkeit, etwa Startchancengleichheit, Generationengerechtigkeit, Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit. In Umverteilung sieht der Historiker Jürgen Kocka zwar auch weiterhin ein wichtiges Element sozial gerechter Politik, lässt jedoch den Staat primär auf die soziale Einbeziehung und die Teilhabe aller zielen.

Die Verhinderung von Armut, die Garantie sozialer Sicherheit und die Inklusion in Erwerbsarbeit gehören dazu ebenso wie - ganz zentral - der Zugang zu und die Sicherung von bestmöglicher Bildung und Ausbildung. Ein ähnliches Verständnis zeigt sich, wenn “Beteiligungs- und Befähigungsgerechtigkeit” als zentrale Elemente sozialer Gerechtigkeit beschrieben werden, so vom Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber. In seinen Augen erweist es sich als große Herausforderung an sozial gerechte Politik, dass vielen Menschen die Möglichkeit fehlt, durch Erwerbsarbeit für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen.

Der dänische Soziologe Gøsta Esping-Andersen schließlich sieht die wichtigste Herausforderung des modernen Wohlfahrtsstaats darin, die dauerhafte Verfestigung sozialer Nachteile zu vermeiden. Es soll verhindert werden, dass Bürger in einem Zustand des sozialen Ausschlusses oder geringer Handlungsoptionen gefangen bleiben und auf diese Weise auf Dauer Lebenschancen einbüßen.

Auch wenn sich die Ansätze im Detail unterscheiden, besteht weitgehend Konsens darüber, dass soziale Gerechtigkeit sich heute nicht in erster Linie nur an materiellen Verteilungsaspekten orientieren kann, sondern auch ein Mehr an Gleichheit bei den Teilhabe- und Verwirklichungschancen der Menschen bedeutet.

(S.19, aus dem Armutsbericht)

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