Alte Liebe rostet doch: Das Verhältnis Gewerkschaften und SPD ist lädiert
Von Klaus Ernst, Pascal Meiser und Alfred Diethard Nahr
So hatte sich SPD-Bundestagsfraktionsvize Joachim Poß den 1. Mai 2007 sicher nicht vorgestellt: In einem gellenden Pfeif-Konzert ging sein Name während der Vorstellung bei der zentralen DGB-Mai-Kundgebung in Poß’ Heimatstadt Gelsenkirchen unter. Ausgerechnet die Gewerkschaftsbasis in Gelsenkirchen, wo seit Dekaden noch jeder rote Besenstil in den Bundestag gewählt worden wäre, wenn SPD drauf gestanden hätte, watschte Poß dermaßen ab.
Auch die folgende Rede von DGB-Chef Michael Sommer war kaum erfreulicher für den Finanzpolitiker der Nach-Schröder-SPD. Generell habe man an der Politik dieser Bundesregierung wesentlich mehr zu kritisieren als zu loben, so Sommer: "Die völlig unsinnige Gesundheitsreform, die das Ende der solidarischen Krankenversicherung eingeläutet hat, steht genauso auf der Negativliste wie die geplante Unternehmenssteuerreform. Man muss schon sehr mit der sozialen Gerechtigkeit auf Kriegsfuß stehen, wenn man den kleinen Leuten die Mehrwertsteuer erhöht und den Großkonzernen die Körperschaftssteuer drastisch senken will." Die Anhebung des Rentenalters durch SPD-Arbeitsminister Müntefering sei "politisch pervers" und laufe mangels Stellen auf eine faktische Rentenkürzung hinaus, kritisierte Sommer weiter und kündigte an, das Thema werde den Regierungsparteien erhalten bleiben: "Wir werden uns damit nicht abfinden. Unser Kampf für eine Rente, die ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, wird genauso weitergehen wie unser Kampf gegen die Rente mit 67. Und das heißt, wir werden das zu einem zentralen Wahlkampfthema bei der nächsten Bundestagswahl machen".
Ingesamt kam Sommers Gelsenkirchener Rede daher wie der Widerruf seiner Hoffnungen zu Beginn der Großen Koalition: Nicht nur eine Regierungsmehrheit für Schwarz-Gelb und damit das Schleifen der Tarifautonomie sei verhindert worden, so Sommer im Oktober 2005. Auch wolle die Große Koalition ein Konjunkturprogramm auflegen, wie von den Gewerkschaften lange gefordert. Außerdem seien zur Linderung der Ausbildungsplatzkrise branchenbezogene Umlageverfahren in Aussicht gestellt. Von diesen Hoffnungen scheint selbst bei Sommer inzwischen nichts geblieben.
Immerhin war Sommer noch bereit, sich am 1. Mai mit führenden SPD-Vertretern auf einer Bühne zu zeigen. Das ist Anno 2007 keineswegs mehr selbstverständlich. Das hat die Ausladung von SPD-Bundestagsabgeordneten als Redner bei diesjährigen 1. Mai-Kundgebungen des DGB Bayern deutlich gezeigt, nachdem diese zuvor im Bundestag für die Gesundheitsreform und die Rente mit 67 gestimmt hatten. Besonders tragisch für die SPD: Diese Ohrfeige teilte ausgerechnet ein ehemals aktiver Parteigenosse aus. Bayerns DGB-Chef Fritz Schösser, selbst Ex-SPD-Bundestagsabgeordneter, der aufgrund der Agenda 2010 auf eine erneute Kandidatur für den Bundestag verzichtet hatte, gab den Parteifreunden öffentlich Saures: Die SPD müsse abgehen "von ihrem neoliberalen Kurs hin zu einem, der mehr soziale Gerechtigkeit bringt", sonst könne selbst er seinen Parteiaustritt nicht mehr ausschließen. Dass gleichzeitig der Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, Ottmar Schreiner, wie vorgesehen am 1. Mai in Fürth redete, zeigt zudem, dass es dem bayrischen DGB nicht um parteipolitische Sippenhaft ging, sondern um eine unabhängige und glaubwürdige Gewerkschaftsbewegung. Offene Proteste gegen die Ausladung der SPD-Redner von der 1. Mai-Kundgebung gab es daher kaum. Selbst der DGB-Bundesvorstand segnete die Entscheidung der bayrischen Kollegen ab.
Noch vor wenigen Jahren war eine solche Entfremdung zwischen Gewerkschaften und SPD undenkbar. Im Wahlkampf 1998 propagierte man gemeinsam den "Politikwechsel" so erfolgreich, dass "Rot-Grün" eine satte Bundestagsmehrheit bekam, obwohl auch der PDS der Sprung ins Parlament gelang. Der ersehnte Politikwechsel nach den tristen Kohl-Jahren schien aus Gewerkschaftssicht nur noch eine Frage der Zeit und ließ sich mit dem 100-Tage-Programm der rot-grünen Regierung auch Erfolg versprechend an. Doch wurde die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Sozialdemokratische Politik für das 21. Jahrhundert sei nur mehr mit und nicht gegen das Kapital zu machen, verkündeten Schröder und die Seinen bald. Als Arbeitsminister und Ex-IG-Metall-Vize Walter Riester die Teilprivatisierung der Rente durchsetzte und Kanzler Schröder protestierende ÖTVler mit den Worten abkanzelte: "Wir werden das machen – und damit basta", war die neue Haltung der SPD-Spitze gegenüber den Gewerkschaften auch symbolisch auf den Punkt gebracht.
Nur die Ablehnung einer aktiven Beteiligung am Irak-Krieg und das wohl inszenierte Hochwasserkrisenmanagement retteten Rot-Grün bei den Bundestagswahlen 2002 noch einmal, auch ohne großen Rückenwind aus den Gewerkschaften. Da man zudem die linke Konkurrenz im Bundestag fast völlig losgeworden war, schienen eine Zeit und Nerven raubende Rücksichtnahme auf die Gewerkschaften aus Sicht der SPD-Spitze jetzt überflüssig. Was könnten die schon machen? Etwa mit einer offenen Unterstützung der zwei verbliebenen PDS-Bundestagsabgeordneten drohen? Konsequent ließ Rot-Grün Agenda 2010 und Hartz-Reformen folgen.
Nicht immer konsequent war die gewerkschaftliche Reaktion auf diesen "Liebesentzug". Die Kritik an der "Agenda 2010" und den Hartz-Gesetzen blieb anfangs verhalten. Auch einzelne Gewerkschafter sprachen von "notwendigen Veränderungen" und verkannten die drohende Abwärtsspirale. Erst die Massendemos am 3. April 2004 markierten einen Wendepunkt: An Wahlkampfunterstützung für die SPD war 2005 nicht mehr zu denken. Es kriselte zwischen SPD und Gewerkschaften, der Lack war ab.
Statt die Schröder-Partei zu unterstützen, wollten sich immer mehr Gewerkschafter aus der Umklammerung der SPD lösen. Und im Unterschied zu früheren Jahren gaben nicht bloß ein paar weitere Gewerkschafter frustriert ihr SPD-Parteibuch zurück. Erstmals gab es genug kritische Masse für eine wahlpolitische Alternative. Zusammen mit vielen Hartz IV-Opfern und bis dato heimatlosen Linken entstand die WASG. Mit der Galionsfigur Oskar Lafontaine und unter dem Druck der Neuwahlen wurde die historische Gelegenheit genutzt und eine stabile gesamtdeutsche Kraft links von Rot-Grün geschmiedet. Und schon jetzt zeigt sich, dass eine linke Opposition im Parlament neue Spielräume für eine mutigere Gewerkschaftspolitik bietet. Denn, dass sich jetzt auch führende Gewerkschafter, die weiterhin auf Distanz zur Linken bleiben, für die Ausladung von SPDlern von ihren Kundgebungen am 1. Mai ausgesprochen haben, dürfte auch dem Ende der parlamentarischen Alternativlosigkeit zu verdanken sein.
Den Kampf gegen den Neoliberalismus können die Gewerkschaften hingegen nur gewinnen, wenn sie sich auf das Prinzip der Einheitsgewerkschaft und – unabhängig von allen Parteien – auf ihre eigene Kampfkraft besinnen. Diese Einsicht wächst. Das zeigt der lange Atem, den die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, im Kampf gegen die Rente mit 67 bewiesen haben. Es sollte aber auch klar sein: Diese Auseinandersetzung ist nicht von heute auf morgen zu gewinnen. Die Große Koalition spekuliert auf die Vergesslichkeit der Menschen. Dem müssen die Gewerkschaften energisch entgegensteuern und nicht nur den Mund spitzen, sondern auch pfeifen: Die Forderung nach Rücknahme der Rente mit 67 und anderer sozialer Schweinereien der Großen Koalition müssen die Gewerkschaften in die Bundestagswahl 2009 tragen, sonst werden SPD und Union sie künftig kaum mehr ernst nehmen.
Auf Seiten der SPD schrillen angesichts einer solchen Entwicklung alle Alarmglocken. Doch eine Abkehr von der Agenda-2010-Politik, wie es die SPD-Restlinke um Ottmar Schreiner fordert, scheint in der SPD weiter tabu. Stattdessen wird, wer in den Gewerkschaften die Umklammerung durch die SPD beenden will, als Gegner der Einheitsgewerkschaft diffamiert. Dabei sind es SPD-"Strategen" wie Peter Struck oder der Wadenbeißer der bayrischen SPD, Ludwig Stiegler, die unter Einheitsgewerkschaften nichts anderes verstehen als Organisationen, die einheitlich nach der Pfeife der SPD tanzen. Anders ließ sich ihre zeitweilige Idee, in Konkurrenz zu den Gewerkschaften am 1. Mai eigene Kundgebungen zu veranstalten, wohl kaum verstehen.
Die letzten Wochen haben aber auch gezeigt, dass hinter den Kulissen in Teilen der Gewerkschaften daran gearbeitet wird, das Verhältnis zur SPD wieder zu kitten und die gebrochenen Wahlversprechen der SPD schnell wieder vergessen zu lassen. So warnte beispielsweise der 2. Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber, kürzlich in einem Interview mit der Wirtschaftswoche vor einer allzu großen Nähe von IG Metall-Funktionären zur neuen LINKEN. "Die persönlichen Präferenzen bestimmter Kollegen habe ich zu respektieren", so das unbeirrbare SPD-Mitglied Huber, doch politische Mehrheiten für gewerkschaftliche Ziele seien mit der LINKEN nicht zu gewinnen. Wie diese Ziele angesichts des Niedergangs der SPD mit dieser zu erreichen sind, verrät Huber allerdings nicht. Wie die Wahlen zur Bremer Bürgerschaft zeigen, ist es viel wahrscheinlicher, dass es nur mit der LINKEN Mehrheiten für Gewerkschaftsforderungen geben wird. Statt diese veränderte Lage zur Kenntnis zu nehmen und als Chance zu begreifen, warf sich Huber in besagtem Interview lieber verbal CDU-Kanzlerin Angela Merkel an den Hals: "Frau Merkel nimmt sich für die Gewerkschaften Zeit. Das ist ein anderer Umgang, als wir ihn von Bundeskanzler a.D. Schröder kannten. Der Stil ist besser. Wir werden ernst genommen."
Wie ernst die Kanzlerin die Gewerkschaften tatsächlich nimmt, haben Gesundheitsreform und Rente mit 67 deutlich gezeigt. Und für das Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften sind die nächsten Nagelproben bereits auf dem Tisch. Allen voran das Thema Mindestlohn. Hier hat die SPD mit ihrer Unterschriftenaktion "Mindestlöhne für Deutschland" in den vergangenen Wochen zu punkten versucht, nachdem sie fürchten musste, dass auch hier einzig DIE LINKE Unterstützung für eine zentrale gewerkschaftliche Forderung bietet. Doch bisher hat die SPD ihren Worten keine Taten folgen lassen. Im Gegenteil: DIE LINKE hat die SPD-Forderungen textgleich ins Parlament eingebracht. Urheberin SPD und Union aber haben bisher alles getan, um die Entscheidung zu verschleppen. Zuletzt wurde sogar die Behandlung im zuständigen Ausschuss torpediert. Und nachdem die von Huber gelobte Kanzlerin in der Mindestlohn-Frage auch bei ihrem Treffen mit der DGB-Spitze am 8. Mai Beton angerührt hat, werden Struck & Co. wohl weiter Seit an Seit mit der Union jeden Antrag auf einen gesetzlichen Mindestlohn niederstimmen.
Mit Blick auf die Verzögerungstaktik der SPD hat daher auch Michael Sommer am 1. Mai in Gelsenkirchen zu Recht angemahnt: "Der Mindestlohn ist kein Wahlkampfthema für 2009. Es ist notwendig, ihn jetzt, im Jahr 2007 einzuführen." Offenbar ist auch die SPD-Unterschriftenaktion kaum geeignet, das Verhältnis von SPD und Gewerkschaften aufzupolieren. Im Gegenteil: Der eine oder andere Gewerkschafter mehr wird sich nach diesem PR-Mätzchen zu Recht des Gefühls nicht erwehren können, von der SPD im Regen stehen gelassen zu werden. Und wenn man das dauerhaft tut, rostet selbst die älteste Liebe.
Klaus Ernst ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Schweinfurt, Geschäftsführendes Bundesvorstandsmitglied der WASG und Stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion DIE LINKE.
Pascal Meiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet im Bundestagsbüro von Klaus Ernst.
Alfred Diethard Nahr ist Historiker und arbeitet als Journalist im Ruhrgebiet..
Der Artikel ist zuerst erschienen in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift “Sozialismus“.