Wem gehört die Partei? Moderne Linkspartei, Offene Organisation, Offener Sozialismus
von Christoph Spehr
1. Was ist das Moderne an der modernen Linkspartei?
Obwohl es in der geschichtlichen Entwicklung immer anders kommt, als man denkt, tritt manchmal auch der glückliche Umstand ein, mit einer Voraussage Recht gehabt zu haben. Nach der Niederlage der PDS bei der Bundestagswahl 2002 hatte die Luxemburg-Stiftung die Einschätzung vertreten, dass auch in Deutschland nur eine moderne Linkspartei die Chance hätte, sich langfristig im Parteienspektrum zu etablieren, und dass eine solche Linkspartei nur das Ergebnis einer kooperativen Vereinigung zwischen der PDS und anderen Gründungskernen sein könne. In einem Standpunkte-Papier von Michael Brie hieß es dazu 2003: „Die PDS ist nicht in der Lage, das demokratisch-sozialistische Potenzial in Ostdeutschland auszuschöpfen und erreicht es in Westdeutschland nur zu einem geringen Teil ... eine starke und attraktive Formation außerhalb von SPD und Grünen ... könnte sich durch ein Bündnis von PDS mit anderen linken sozialen Kräften bilden (PDS Plus).“ Die könne nur gelingen, wenn sich die PDS „in ein umfassenderes parteipolitisches Projekt einbringt.“
Diese Einschätzung war aus zwei Quellen gewonnen: aus der Zusammenarbeit mit VertreterInnen sozialer Bewegungen einerseits, und aus dem Studium der Entwicklung anderer Linksparteien in Europa andererseits. Der laufende Vereinigungsprozess zwischen WASG und Linkspartei.PDS wird diese Perspektive auch für Deutschland einlösen. Die Frage die sich jetzt stellt ist die, wie sich eine moderne Linkspartei, jenseits ihrer Entstehungsgeschichte, organisatorisch und inhaltlich definiert. Was ist das Neue an den linken Parteien neuen Typs, die sich in ganz Europa, aber auch z.B. in Lateinamerika, links von Sozialdemokratie und Grünen formieren?
Meine These ist: Eine moderne Linkspartei stellt tatsächlich einen neuen Typ von linker Partei dar. Die heutigen Linksparteien sind Teil einer Neueinstellung der linken Kräfte nach der Niederlage gegen den Neoliberalismus. Sie sind insbesondere Teil eines nachholenden Lernprozesses in Sachen Demokratie. Die Frage der Demokratie ist dabei in einem weiten und grundsätzlichen Sinne zu begreifen. Sie betrifft sowohl die Organisation selbst, als auch ihr Verhältnis zu Kräften außerhalb von ihr, als auch ihre Vision einer zukünftigen Gesellschaft und der Transformation dorthin.
2. Demokratie und Organisation in der modernen Linkspartei
Viele moderne Linksparteien sind aus einer Kooperation sehr unterschiedlicher Teilorganisationen entstanden. Das ist in der Entstehungsgeschichte linker Parteien nichts Ungewöhnliches. Das Spezifische einer modernen Linkspartei ist, dass diese unterschiedlichen Entstehungskerne in der neuen Partei nicht verschwinden, sondern erhalten bleiben und dass dies ein Organisationsverständnis prägt, wonach Pluralität und Differenz auf Dauer akzeptiert, ja aktiv herbeigewünscht werden. Die aus der Entstehung bedingte Pluralität der Partei ist kein abzutragendes Hindernis, sondern positive Voraussetzung, diese Pluralität in Zukunft noch stärker ausweiten zu können. In der modernen Linkspartei sind als Normalzustand unterschiedliche Weltanschauungen, unterschiedliche Politikbegriffe, unterschiedliche politische Strömungen und Typen von Organisationsverhalten aktiv und prägend. Pluralität wird begriffen als eine politische Produktivkraft, als eine Voraussetzung, mit der Breite der linken Szene außerhalb der Partei zusammenarbeiten und mit der Gesellschaft kommunizieren zu können. Ganz praktisch ist organisierte Pluralität auch die Bedingung dafür, die Identifikation der unterschiedlichen Entstehungskerne mit der vereinigten Linkspartei zu erhalten und die Breite des Vereinigungsprozesses nicht wieder zu verlieren.
Eine moderne Linkspartei ist deshalb innerorganisatorisch mit dem Problem konfrontiert, unterschiedliche demokratische Prinzipien vereinbaren zu müssen. Dies tritt zunächst auf als Gegensatz zwischen Basisdemokratie und Repräsentation. Nach dem basisdemokratischen Prinzip ist es das unveräußerliche Recht der Parteibasis, alle wesentlichen inhaltlichen und personellen Entscheidungen zu treffen, und zwar nach dem Prinzip „one (wo)man, one vote“. Das heißt, die Stimme jedes Mitglieds zählt gleich und jedes Mitglied kann versuchen, Mehrheitsentscheidungen in seinem Sinne herbeizuführen. Mit Recht ist die Basis misstrauisch gegenüber allen Versuchen, diesem Recht vorzugreifen (z.B. durch allzu detaillierte Entscheidungsvorschläge des Vorstandes oder ausgehandelte Kompromisse zwischen Gruppen) oder es zu schwächen. Ebenso unverzichtbar in der modernen Linkspartei ist jedoch das Verständnis von Demokratie als Repräsentation. Die unterschiedlichen Entstehungskerne, Gruppen oder Teilzusammenhänge einer Linkspartei müssen sich in dieser Partei vertreten sehen - in der Besetzung ihrer Führungspositionen, in programmatischen Positionen, in ihrer praktischen Arbeit, in der Organisationskultur. Eine konsequente Anwendung reiner Mehrheitsentscheidungen durch die Basis würde die Partei zerstören, weil sie Teile der Partei aus ihr herausdrängen würde. Einige oder alle ihrer Teilzusammenhänge wären nämlich nie in der Lage, aus eigener Kraft eine Stimmenmehrheit zu stellen und dadurch die Partei inhaltlich oder personell mitprägen, zu „ihrer“ machen zu können.
Dies ist ein sehr praktisches und sehr ernsthaftes Problem. Im Bremer Landesverband der Linkspartei wurde aus ähnlichen Erwägungen heraus unlängst eine Satzungsänderung vorbereitet, mit der die alte Position des Vorsitzenden umgewandelt werden sollte zugunsten mehrerer gleichberechtigter LandessprecherInnen, was in engem Zusammenhang mit den Bemühungen um eine integrative Vorstandsbildung stand. Das Modell fand jedoch auf dem Parteitag keine satzungsgemäße Mehrheit. Einer der stärksten Faktoren war dabei das Gefühl an der Basis der Partei, ein Stück weit entmachtet zu werden, die Entscheidung über die Spitze der Partei nicht mehr selbst fällen zu können, untergeordnet zu werden unter eine unübersichtliche Führungsgruppe, die ihre Kompromisse nur noch zur Absegnung vorlegt. Auch drücken sich darin Widerstände aus gegen das Konzept einer modernen Linkspartei als „konnektiver“ Massenpartei (Porcaro) mit all den möglichen Erscheinungen einer verringerten sozialen Bindung oder des Verlusts eines identitäts-basierten Parteicharakters, der Intimität, Sicherheiten und informelle Zugriffe ermöglichte.
Andere Aspekte von Organisationsdemokratie werden ebenfalls neu zur Klärung anstehen. Das betrifft zum einen das Verhältnis zwischen den nationalen Linksparteien und der Europäischen Linkspartei. Auch hier müssen das basisdemokratische und das repräsentative (in diesem Fall: das nationalstaatliche) Prinzip sinnvoll miteinander vermittelt werden; zusätzlich muss abgewogen werden, welche Verbindlichkeit gemeinsame Entscheidungen für die einzelnen, nationalen Linksparteien haben können und sollen. In der PDS ist diese Frage bekannt als Spannungsverhältnis zwischen der Autonomie der Landesverbände und dem Anspruch, die bundesweite Gestalt der Partei direkt und basisdemokratisch bestimmen zu wollen - etwa, wenn es um so umstrittene Fragen wie konkrete Regierungsbeteiligungen auf Landesebene geht. Genau anhand dieses Beispiels - nämlich der Regierungsbeteiligung der PDS in Berlin und der Identität der Berliner WASG, die explizit gegen die Politik des rotroten Senats gegründet wurde - entwickelt sich derzeit eine zweite, neue Frage von grundsätzlicher Bedeutung: Sollen Mitglieder einer vereinigten Linkspartei in Zukunft die Möglichkeit haben, auf unabhängigen Listen, gemeinsam mit Bewegungen z.B., gegen Wahllisten der Partei zu kandidieren? Eine solche Option erscheint uns spontan problematisch, wenn es um die eigene Partei geht. Wenn wir uns aber vorstellen, die Satzungen von SPD und Grünen würden diese Möglichkeit einräumen, und was das für den Widerstand gegen die rot-grüne Politik des Sozialabbaus und der Kriegsbeteiligung bedeutet hätte, dann sehen wir sofort die demokratietheoretische Komponente dabei. In Fragen, die derart stark identitätsbildend für Teile der Partei sind, stehen wir vor der Entscheidung, entweder die Entscheidungsfähigkeit der Landesverbände durch hohe Quoren oder Vetorechte zu lähmen, oder die Abspaltung von Teilen der Mitgliedschaft aus der Partei zu riskieren, oder aber den Anspruch an die Verbindlichkeit des Handelns der Mitglieder herunter zu schrauben. Das genau ist die strukturelle Entscheidung, die wir hier zu treffen haben, und sie ist von grundsätzlicher demokratischer Bedeutung.
Eine dritte Gruppe von demokratietheoretischen und -praktischen Entscheidungen betrifft das Verhältnis der Partei zu ihrem Umfeld, zu den sozialen Bewegungen und zu mit ihr kooperierenden gesellschaftlichen Kräften. Einige Linksparteien haben hier bereits sehr fortschrittliche Ansätze geschaffen. In der PDS sind durch die Parteireform Anfang der 90er Jahre Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern relativ weitreichende Rechte gegeben worden, gemeinsame Arbeits- oder Interessengruppen zu gründen und parteioffiziell anzumelden, in denen dann auch Nicht-Mitglieder Stimm- und Vertretungsrechte haben können. Auch auf Parteitagen etc. können Nicht-Mitgliedern, die die Politik der Partei aktiv unterstützen, Stimm- und Mitwirkungsrechte übertragen werden.6 Die Rifundazione hat sich mit ihrer Orientierung auf die Schaffung sogenannter „offener Räume“ dazu bekannt, dass die Partei anstelle der alten Vorfeldorganisationen gesellschaftliche Räume fördert (und finanziert), in denen sie nicht das Sagen hat und für die sie nicht die Ziele vorgibt - zum Beispiel soziale Zentren, Räume im Jugendbereich oder die Sozialforen. Alle diese Ansätze reflektieren die Tatsache, dass eine linke Partei in den westlichen Gesellschaftssystemen zwar politisch abhängig ist von der Unterstützung durch Bewegungen, in ihrer materiellen Macht und in ihren rechtlichen Möglichkeiten jedoch extrem privilegiert innerhalb der linken Kräfte. Eine Partei, die diese Möglichkeiten und Machtmittel nur für die spezifischen Interessen der Partei einsetzt und die nichts unternimmt, um anderen linken Kräften auch Macht über die Partei zu geben, verhält sich daher ausbeuterisch in Sachen Demokratie.
Für all diese Fragen gibt es keine vorgefertigten Antworten und Modelle. Sie lassen sich auch nicht durch theoretische Ableitung oder objektive Evaluation und Effizienzmessung („benchmarking“) klären. Sie werden geklärt durch Aushandlungsprozesse, in denen das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein und -seinwollen der Kooperationspartner, die Basis ihrer Verhandlungsmacht ist. Viele Aspekte von Pluralität, die in konservativen oder bürgerlichen Parteien selbstverständlich sind, sind in Linksparteien schwierig und Gegenstand eines nachholenden Lernprozesses. Die Linke kommt in hohem Maße aus einer Tradition des erbitterten Streits um „richtig“ oder „falsch“, auch aus einem Erfahrungszusammenhang, wo die Homogenität Gleichgesinnter eine wichtige Überlebensqualität hatte in einer Gesellschaft, deren Hegemonie eine ganz andere ist.
Die Aneignung und Ausgestaltung einer demokratischen Pluralität ist jedoch von entscheidender Bedeutung für jede moderne Linkspartei. Eine moderne Linkspartei darf keine geschlossene, sondern muss eine „Offene Organisation“sein. Der Begriff der Offenen Organisation ist aus Indymedia-Diskussionen entstanden und bezog sich auf Organisationsformen innerhalb der sozialen Bewegungen. Es scheint mir jedoch sehr hilfreich, den Begriff der Offenen Organisation auch für moderne Linksparteien und für andere Großorganisationen wie Gewerkschaften, Attac o.ä., anzueignen. Eine Offene Organisation in diesem Sinne wäre dann
- eine Organisation, die offen ist für ihre Selbstveränderung durch ihre Mitglieder, durch ihr Umfeld und durch die sozialen Bewegungen und Kräfte, welche die Partei tragen;
- eine Organisation die anerkennt, dass wesentliche ihrer Ressourcen außerhalb von ihr liegen, und die dem strukturell Rechnung trägt;
- eine Organisation, die sich über Prozesse und nicht über Identitäten definiert, und entsprechend niedrige Exklusionswerte hat (das heißt möglichst wenige Individuen und Gruppen systematisch ausschließt oder abstößt).
Dies wird nicht über Erklärungen bewirkt, sondern durch Organisationsarbeit. Organisationsarbeit ist das kollektive Pendant zur Beziehungsarbeit auf der individuellen Ebene. Sie besteht darin, dass die unterschiedlichen Teile und Individuen der Organisation lernen einander zu verstehen, ihre jeweiligen Sprachen zu entziffern, Sensibilität für Unzumutbarkeiten entwickeln, und immer neue Lösungen produzieren wie widerstreitende demokratische Ansprüche temporär zur Deckung gebracht werden können. Veränderungsoffen, umfeldoffen, identitätsfeindlich: das sind die organisationspolitischen Voraussetzungen, um Pluralität zum wirkmächtigen Prinzip weiterer Entwicklung werden zu lassen.
3. Demokratie und Transformation
In der politischen Linken sind seit Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen worden, gesellschaftliche Transformation, also den Anspruch auf Gesellschaftsveränderung, neu zu denken. Ein Kernpunkt dabei ist immer wieder, dass gesellschaftliche Entwicklung offen ist, dass die Zukunft der Gesellschaft nicht vorherbestimmt ist, sondern von den Menschen selbst produziert wird. Dabei werden zwei Dinge betont. Erstens: Gesellschaft entwickelt sich nicht in einer kontinuierlichen Evolution und kann deshalb nicht beliebig scheibchenweise reformistisch verändert werden. Gesellschaftliche Entwicklung verläuft als Abfolge von geregelten Zuständen, die eine hohe Stabilität und Konsistenz haben und zwischen denen Brüche, schubweise, tiefgehende Veränderungen liegen, die dann wieder in einen neuen Zustand relativer Stabilität münden, der erst nach und nach wieder unter Druck gerät. Ob wir dies Regulationsweisen, Entwicklungspfade, Formationen o.ä. nennen, ist für diesen Aspekt unerheblich. Der Gegensatz von Revolution und Reform löst sich auf in transformatorische Politik. Zweitens: Obwohl die Zukunft offen ist, ist sie nicht beliebig. Zwar ist der jeweils nächste Entwicklungszustand, der nächste Entwicklungspfad, Regulationsweise etc. nicht vorherbestimmt, aber er muss möglich sein, d.h. zum Stand der Produktivkraftentwicklung, der Klassen- und Geschlechterverhältnisse, der subjektiven Kräfte, des alltäglichen gesellschaftlichen Verkehrsverhältnisse etc. passen. Ein neuer Entwicklungspfad, eine neue Regulationsweise sind nur möglich, wenn sie bis zu einem gewissen Grad in sich stimmig ist und wenn sie für einen hinreichend starken historischen Block von Kräften akzeptabel und partiell auch attraktiv ist.
Es ist bislang meines Erachtens der Tatsache noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, dass dies zwingend eine Neubestimmung des Verhältnisses der Linken zur Demokratie nach sich zieht. Gesellschaftliche Transformation wird deutlich als ein kooperativer Prozess, in dem sehr unterschiedliche Kräfte gemeinsam wirken müssen, und als ein kreativer Prozess, in dem der nächste Entwicklungspfad gemeinsam erfunden werden muss. Was bei den Menschen nicht funktioniert, nicht ankommt, nicht zu ihren Erfahrungen, Kategorien und Wünschen passt, hat keine Chance. Nur was vielfältige vorhandene Erfahrungen, Ansprüche und Veränderungswünsche aufgreift und einbezieht, kann ein neuer Entwicklungspfad werden. Das ist ein Umstand, den wir bei der Durchsetzung des Neoliberalismus gerade erst mühsam entziffern.
Für eine moderne Linkspartei bedeutet das, dass sie die Zukunft nicht machen kann. Nicht nur, weil sie zu schwach wäre, weil ihre Durchsetzungskraft nicht reichen würde etc. - sondern weil sie die Zukunft nicht kennen kann und diese erst in einem sehr viel breiteren, Organisationen wie Alltagsbewegungen umfassenden Prozess erfunden werden muss. Materielle Demokratie, das heißt gleiche Teilhabe und gleichberechtigt verteilter Einfluss, erscheint hier wiederum als linke Produktivkraft.
Diese Verschiebung der Auffassung von Revolution/Transformation: weg vom „notwendigen Umbruch“, der „hinter dem Rücken der Menschen“ gemacht wird, hin zum „Umbruch als kollektive Produktion“, dessen Inhalt und Gestalt nicht vorherbestimmt sind, aber gefüllt werden müssen, hat notwendige Konsequenzen für linke Politik. Erstens: Demokratie, als reale Gesamtheit der sozialen Kräfte und Individuen, ist nicht einfach nur ein Kampffeld, wo der „Kampf um die Köpfe“ geführt wird. Demokratie in diesem Sinne ist ein Produktionsort, eine kollektive Produktion des Neuen und des jeweils nächsten Entwicklungspfades oder allgemeinen Regelsystems. Die Linke ist hier nicht ein Boxer im Ring, sondern ein Teilnehmer an dieser Produktion und gleichzeitig der schärfste Verteidiger dieser kollektiven Maschine, gegen alle Strukturen und Versuche, sie ungleichen und privilegierten Zugriffsrechten zu unterwerfen.
Zweitens: Ein grundsätzlich neues gesellschaftliches Projekt muss dieser kollektiven Produktion entspringen, wenn es Wirklichkeit werden soll. Es braucht eine Mehrheit sozialer, politischer, kultureller, individueller Kräfte hinter sich, sprich einen Hegemoniewechsel. Dies heißt aber mitnichten, dass sich die Linke oder eine moderne Linkspartei hier entspannt zurücklehnen kann. Sie hat spezifische Aufgaben, nämlich den Bezug aufs Ganze und auf die Totalität der Kräfte und Aspekte immer wieder einzubringen und herzustellen: „Das Merkmal, das diese Partei von den anderen Vereinigungen unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Partei notwendigerweise alle Aspekte des sozialen Kampfes wahrnimmt ... außerdem stellt sich für eine Partei immer das Problem der Beziehung zwischen den sozialen Kämpfen und der Sphäre der Staatsmacht.“(Porcaro 80 f.) Eine moderne Linkspartei hat in diesem Prozess nur Existenzberechtigung und wird nur ernst genommen, wenn sie selbst produktiv ist: wenn sie Beiträge macht, wenn sie aktiv Vorschläge entwickelt, Reaktionen aufnimmt, modifizierte Vorschläge macht und eine Vorreiterrolle bei der Klärung der Frage einnimmt, was möglich ist - im Doppelsinne von gesellschaftlicher Konsistenz eines Vorschlags und von möglicher Akzeptanz, sprich Hegemoniefähigkeit eines Vorschlags.
Drittens: Die entscheidende machtpolitische Leistung einer modernen Linkspartei ist es, beizutragen zur Verschiebung von Kräfteverhältnissen und zur Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten für soziale Gruppen, Kräfte und Individuen. Die „gute Lösung“ für ein gesellschaftliches Problem mag nützlich sein und ihre Reputation steigern. Die transformatorische Kraft liegt jedoch ausschließlich darin, dass bisher benachteiligte Gruppen jetzt stärker zum Zugriff kommen; dass bislang verweigerte gesellschaftliche
Handlungsmöglichkeiten jetzt offen stehen; dass die Verhandlungsmacht von schwach gehaltenen Gruppen gestärkt wird; dass bislang verdeckt gehaltene Zusammenhänge jetzt zum Gegenstand von kollektiven Kampagnen werden; dass Machtverhältnisses verschoben werden. Daran bemisst sich der revolutionäre, transformatorische Beitrag der modernen Linkspartei, und daran bemisst sich der Sinn oder Unsinn von Opposition oder
Regierungsbeteiligung, von gemeinsamen oder eigenen Kampagnen, von antagonistischer Kooperation oder konflikthafter Zuspitzung. Die Linkspartei ist nicht der gute Vater für alle, sondern die Axt ins gefrorene Meer der Verhältnisse, eine machtpolitisch aktionsfähige Hilfstruppe für die Übernahme der Gesellschaft durch die Menschen selbst.
Viertens: Die ökonomische Konsistenz eines möglichen neuen Entwicklungspfades ist von zentraler Bedeutung. Nur ändert sich bei dieser Betrachtung auch die Bedeutung von Ökonomie. Es wird eine zentrale Aufgabe einer modernen Linkspartei sein, die umfassende, kollektive Produktivität der Menschen zum Ausgangspunkt eines verändertem Ökonomie-Begriffs zu machen, der einem neuen Entwicklungspfad und seinen Grundregeln vorgreift.
Die schärfsten Konflikte, die derzeit über die Praxis moderner Linksparteien geführt werden, hängen mit kontroversen strategischen Konzepten zusammen, die spiegelbildlich defizitär in Sachen Demokratie sind und die genannten Aspekte nicht einlösen. In den Kontroversen um Regierungsbeteiligungen scheinen zwei derartige Konzepte durch. Das „pro“-Konzept ist eines der „ausfüllenden Gestaltung“, d.h. Gestaltung ist ein Wert an sich. Hier wird häufig genau die Idee der Linkspartei als „guter Vater“, der machbare, aber dabei auch gerechte Lösungen für alle produziert, hochgehalten - eine Kraft, die das historisch machbare Optimum an Mitgestaltung „realisiert“ und dafür eigentlich so etwas wie Dankbarkeit und Anerkennung erwartet. Das „contra“-Konzept ist eines der „verdeckten Deligitimierung“, d.h. durch Zuspitzung des sozialen Widerstands werden die herrschenden Kräfte und Verhältnisse demaskiert, bis sich etwas grundlegend Neues an ihre Stelle setzen kann. Beiden (hier idealtypisch zugespitzten) Konzepten haftet dabei etwas zutiefst Antidemokratisches an. Die „ausfüllende Gestaltung“ behält es sich selbst vor, zu erkennen, was das „historisch machbare Optimum an Gestaltung“ ist und macht es sich nicht zum Kriterium, inwiefern diese Politik nicht nur „Gutes tut“, sondern zur Verschiebung von Kräfteverhältnissen beiträgt. Die „verdeckte Delegitimierung“ will einen Zustand herbeiführen, den die Mehrheit des sozialen Widerstandes gar nicht will oder keine klare Meinung dazu hat. Sie ruft zu Kämpfen auf, an deren Erfolg sie selbst nicht glaubt, und will einen grundsätzlichen Umbruch herbeiführen, über dessen Perspektive auch sie selbst nur vage Auskunft geben kann.
4. Demokratie und Utopie
Schließlich und endlich betrifft das Neue an der modernen Linkspartei nicht nur ihre Organisationskultur, ihr Verhältnis zu anderen Kräften und ihre Auffassung von gesellschaftlicher Transformation, sondern auch ihre Visionen von einer anderen Gesellschaft und ihre konkreten Utopien für andere Regelsysteme. Auch diese Visionen und Utopien werden in neuer Weise demokratisch. Die Entwicklung solcher Visionen und Utopien, die weder neoliberal-kapitalistisch, noch staatssozialistisch sind, entscheidet heute darüber, ob demokratischer Sozialismus mehr ist als eine widerstreitende Addition zwischen (staats)sozialistischem Ziel und (formal)demokratischem Weg, oder mehr als eine elegante Umschreibung von linker Sozialdemokratie.
Wir sollten zunächst zur Kenntnis nehmen, dass alle derzeit wichtigen ökonomischen Utopien um die Frage einer materiellen Demokratie kreisen, die einer zukünftigen Ökonomie tief eingeschrieben sein soll. Der Ausgangspunkt von Michael Alberts „Parecon“-Entwurf ist die Idee einer Gesellschaft, in der jeder ein Mitspracherecht an allen Entscheidungen hat, die ihn betreffen - und zwar so stark, wie es ihn betrifft. Ausgangspunkt der Utopien der Freien Software Bewegung (oekonux, GPL-Gesellschaft, Freie Gesellschaft) ist die Vision einer Gesellschaft, in der alle so frei und selbstorganisiert produzieren und aneignen, wie es in den freien Software-Projekten jetzt schon praktiziert wird (Wertkritik, Selbstentfaltung). Ausgangspunkt der feministischen Utopien einer caring economy (fürsorgende Wirtschaft, am pointiertesten bei Nancy Folbre) ist die Erkenntnis, dass im Kapitalismus ein Großteil der Produzenten, vor allem Frauen, systematisch in ihrer Verhandlungsmacht beschränkt sind. Sie können nämlich weder auf dem Rücken ihrer „Produkte“ (Kinder, Empfänger sozialer Dienstleistungen) beliebig streiken, noch können sie die Produkte ihrer Arbeit verkaufen - Menschen, soziales Kapital, lebensfähige Individuen etc. eignet sich das Kapital gratis an. - Alles beginnt hier mit einer „demokratischen“ Kritik der Ökonomie und des Ökonomiebegriffs. Die herrschende Ökonomie ist falsch, weil sie die Leistungen vieler als wertlos und gratis behandelt, andererseits aber so tut, als würde Überleben und Entwicklung von den sogenannten „Leistungsträgern“ (Individuen und Unternehmen) produziert, während diese in Wahrheit nur hypertrophe, autoritäre Zwischenhändler sind.
Der Nachholbedarf der politischen Linken ist hier augenfällig. Kapitalistische Ökonomie (oder heute: neoliberale Ökonomie) wurde von ihr klassischerweise kritisiert als dysfunktional, ineffizient, als ein System das schlechte und schreckliche Ergebnisse produziert - aber nicht als ein System, das in sich illegitim und undemokratisch ist. Lange Zeit ließen die Alternativvisionen der politischen Linken diese Struktur materiell unangetastet und beschränkten sich darauf, den Output anders zu verteilen oder von oben Planung und staatliche, bestenfalls gewerkschaftliche Kontrolle einzufügen. Dies ist heute nicht mehr hegemoniefähig.
In allen modernen Linksparteien gibt es heute zumindest virulente Bemühungen, hier weiter zu gehen. Entsprechend verändert sich die sozialistische Vision hin zu einem Offenen Sozialismus. Offener Sozialismus bedeutet in diesem Zusammenhang: die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung ist offen, und diese Offenheit muss durch die konkrete Selbstbestimmung und faire Verfügung von Individuen und Gruppen eingelöst werden, nicht durch zentrales staatliches Eigentum und Planung wieder „geschlossen“ werden;
- eine sozialistische Vision ist ein offenes System, das offen ist für die Prägung durch vielfältige soziale Erfahrungen, Aneignungswünsche und alternative Praktiken - nicht nur für die der industriellen (Fach)Arbeiterschaft;
- „Offenheit“ wird verwirklicht durch freien Zugang zu Information und allgemeinem Eigentum, durch kollektive Selbstverwaltung und durch die Abschaffung des Profitprinzips („open source, collective rule, non-profit“).
Auch dies ist keine theoretische oder abstrakte Frage. Nur wenn moderne Linksparteien die Verhaftung an „geschlossene“ sozialistische Visionen aufgeben und zu einer demokratischen Kritik der Ökonomie finden, können sie auch Antworten auf aktuell drängende Fragen geben und Vorschläge für strategische Projekte machen, die darauf antworten. Drei Beispiele hierzu:
Erstens. Es fehlt heute weitestgehend an linken Antworten auf Globalisierung, gesellschaftliche Entmachtung durch Standortkonkurrenz und Erpressung durch Kapitalabwanderung. Das gilt nicht nur für die Linksparteien, sondern auch für die Gewerkschaften oder die globalisierungskritische Bewegung. Zu entwickeln sind Instrumente zur gesellschaftlichen Kontrolle von Kapitalmobilität; neue Akkumulationsmodelle zur Refinanzierung gesellschaftlicher Vorleistungen (z.B. über die Wertschöpfungsabgabe); Antworten auf die Frage, was „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ in einer globalisierten Welt mit unterschiedlichen nationalen Reproduktionsniveaus eigentlich heißt.
Zweitens. Anti-Privatisierung wird nicht erfolgreich sein, wenn sie als Gegenmodell nur den alten staatlichen Sektor sieht. Eine demokratische Vision muss einen öffentlichen Sektor vorstellen, der nicht vom Staat verwaltet wird, sondern in die Trägerschaft freier Träger überführt ist.18 Diese werden staatliche finanziert und kontrolliert, arbeiten aber selbstverwaltet. Der Missbrauch öffentlicher Sektoren für andere staatliche Aufgaben und Zwecke muss aufhören.
Drittens. Eines der anspruchsvollsten Modelle von Wirtschaftsdemokratie war das von schwedischen Gewerkschaften entwickelte Modell der Arbeitnehmerfonds. Dieses Modell löste zwar das strategische Problem, wie langfristig gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln ohne exzessive Entschädigungen realisiert werden kann. Es war jedoch noch behaftet mit den typischen Grenzen einer geschlossenen sozialistischen Vision. Es fehlten Strategien und Festlegungen, wie gesellschaftliches Mehrheitseigentum an Produktionsmitteln auch tatsächlich andere materielle Verhältnisse in der Arbeit hervorbringen sollte; es fehlte auch die Berücksichtigung der demokratischen Ansprüche all derer, die nicht industrielle Arbeitnehmer sind. Konsequenterweise hat die Linkspartei Schwedens in ihrer Neuauflage dieser Vision („gesellschaftliche Fonds“) an diesen Defiziten gearbeitet. Das ist beispielhaft für die Herangehensweise einer modernen Linkspartei an ökonomische Demokratie.
5. Demokratie und soziale Repräsentation
Wir können die Betrachtung dessen, was neu sein muss an einer modernen Linkspartei, nicht abschließen ohne eine bis heute stark vernachlässigte Aufgabe zu benennen: die Öffnung der Partei für die gleichberechtigte Mitwirkung der sozialen Gruppen, die in den alten Linksparteien höchst ungenügend vertreten waren. Zum einen geht es um die Integration feministischer Ansprüche als gleichwertige Zielvorgabe. Eine der nachhaltigsten Schwächungen der politischen Linken war der weltweite Auszug von Frauen aus Organisationen der radikalen Linken, der in den späten 60er und frühen 70er Jahren stattfand. Eine Vereinigung ist hier mindestens so wichtig und wirkmächtig, wie die Vereinigung von unterschiedlichen Parteientstehungsgruppen.
Die Aufgabe ist groß, aber zumindest benennbar. Sie umfasst:
- die Integration feministischer Ansprüche als Teil innerparteilicher Demokratie und Organisationskultur;
- die Entwicklung und Verfolgung von eigenständigen strategischen Projekten, die besonders die Interessen und Gestaltungswünsche von Frauen realisieren;
- die Auseinandersetzung mit, und Entwicklung von, feministisch tragfähigen und attraktiven Utopien und Gesellschaftsentwürfen.
Noch sehr viel ratloser stehen alle modernen Linksparteien vor der Aufgabe, Menschen mit migrantischem Hintergrund gleichberechtigt, aktiv und in großer Zahl zu integrieren oder auch nur zu interessieren. Dies ist absurd, da in diesem Bereich die stärksten Anzeichen einer neuen Klassenbildung im vollen Sinne vorliegen. Menschen mit migrantischem Hintergrund können mit hoher Wahrscheinlichkeit qua Geburt einer Zuordnung zu einer relativ geschlossenen neuen Unterklasse nicht entgehen. Von Seiten der Linksparteien geschieht hier allerdings kaum etwas. Die Schwierigkeiten beginnen oft schon mit Sprachbarrieren, von eigenen strategischen Projekten (wie etwa einer Zuwanderungsoffensive) ganz zu schweigen. Es gibt bislang noch wenige Erfahrungen, wie eine Linkspartei sich hier öffnen kann. Klar ist nur, dass sie einen klassenpolitischen Standpunkt nicht für sich reklamieren kann, wenn sie eine weiße, nicht-migrantische Partei bleibt.
6. Wem gehört die Partei?
Wem also gehört die Partei? Niemandem. Jedenfalls gehört die Partei nicht automatisch denen, die jetzt gerade drin sind. Der Weg zur modernen Linkspartei erfordert die Auffassung, dass die Partei allen gehört, die sie brauchen. Und dass sie so lange verändert werden muss, bis sie von ihnen benutzt werden kann.
Niemand hat behauptet, das wäre leicht.
Artikel mit Fußnoten im PDF-Format zum Herunterladen |